Mag sein, dass der Slogan, den sich die Washington Post mit dem Amtsantritt von Donald Trump verpasst hat (»Democracy Dies in Darkness«), in der Beschwörung eines finsteren Dramas an der eigentlichen Tragödie vorbeigeht: dass eine Demokratie auch in schönster Tageshelle, vor aller Augen, sterben kann – ein langsames Dahinscheiden, das die Politikwissenschaftler schon vor Jahren mit dem Begriff der Postdemokratie belegt haben. Mag man hier einer Verfallsgeschichte beiwohnen, bei der die Institutionen äußerlich unangetastet scheinen, sich innerlich aber zunehmend entkernen, ist das Verwunderliche, dass sich nun allerorten und überaus lautstark die Verteidiger der Demokratie zu Wort melden, ja, dass ihre Zahl auf geradezu bedenkliche Weise zugenommen hat. Schaut man genauer hin, kommen Zweifel auf, ob das ein gutes Zeichen ist. Denn wie der Volksmund weiß: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Nicht zufällig erschöpfen sich die vollmundigen Slogans in der bloßen Absichtserklärung, die Demokratie vor ihren Feinden schützen zu wollen; aber nimmt man die dazu aufgefahrenen Instrumente in den Blick, wird man doch von einem Schauder befallen, ganz abgesehen davon, dass im Schatten des Volksfreundes stets auch der Volksteufel des politischen Diskurses daherkommt. So besehen könnte man den ›Aufstand der Anständigen‹ als eine Form des politischen Hooliganismus auffassen, eine Erotik des Ressentiments, die in dem Augenblick, da der verabscheute Feind abhandenkommt, sogleich in sich zusammenfiele. In jedem Fall weist diese Verteidigungslinie eine befremdliche Nähe zu jener Projektionslogik auf, die schon Hitler zu einer seltenen Einsicht brachte (»Gäbe es den Juden nicht, so müsste man ihn erfinden«). Dieser Logik folgend, wird man nicht müde, die Gefährdung der demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung aufs Neue heraufzubeschwören – mit dem Effekt, dass der metaphysische Nazi zu einem Dauergast wird, einer Gedankenfigur, die aus dem politischen Diskurs gar nicht mehr wegzudenken ist.1 Nimmt man diese Gestalt jedoch als das, was sie ist – die Beschwörung eines Geistes, der zunehmend verblasst –, wird dahinter eine durchaus neuartige Frontlinie sichtbar. Denn wenn der Kampf gegen Hass und Hetze die Köpfe erfüllt, schrumpft der Konflikt auf höchst gegenwärtige Idiosynkrasien zusammen, auf das, was man im Internetzeitalter Dissing zu nennen sich angewöhnt hat. Und weil man es hier mit anderen Social Media-Nutzern zu tun hat – zudem einer Kommunikation, die nicht mehr von Angesicht zu Angesicht läuft –, ist es ein Leichtes, die Meinungsäußerung eines anderen, je nachdem, als rassistisch, völkisch oder menschenfeindlich zu brandmarken. Und weil auch die Gegenseite mit gleicher Münzer retourniert, könnte man von einem symbolischen Bürgerkrieg sprechen, einer Auseinandersetzung, die schon deswegen, weil man hier hinter digitalen Tarnmasken agiert, jener Entfesselungslogik folgt, die schon Carl von Clausewitz beobachtet hat. Dabei ist die physische Gewaltausübung, der alleiniger Sinn darin besteht, den Gegner niederzuwerfen, nicht einmal das hervorragende Kennzeichen. Denn:
Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen. (Carl von Clausewitz, Vom Kriege)
Wirklich beunruhigend aber ist, dass sich nun auch staatliche Stellen auf dieser Kamfpzone tummeln. So hat das hessische Innenministerium vor einigen Jahren eine Abteilung eröffnet (Hessen gegen Hetze), deren einziger Daseinzweck ist, Jagd auf Social Media-Nutzer zu machen, genauer: auf jene törichten Bürger, die sich eines Schwachkopf-Retweets oder eines gleichartigen Gedankenverbrechens strafbar gemacht haben. Hätte man dies ehedem als ›Stammtischgelaber‹ unter den Tisch fallen lassen, führt die Speicherungslogik des Internets dazu, dass der Übeltäter den Strafverfolgungsbehörden das eigene corpus delicti frei Haus liefert – und zwar ohne dass sich jemand dazu von seinem Schreibtisch erheben müsste. Dies wirft die doppelte Frage auf, ob a) eine derartige Gedankenlosigkeit eine Straftat darstellt und b) ob es einer Behörde gut ansteht, den eigenen Bürgern auf eine solche Weise nachzustellen. Dass sich die Abteilung des hessischen Innenministeriums auf ihrer Webseite der Menge der aufgegebenen Anzeigen brüstet, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Staatsbeamten ihrerseits den Blick dafür verloren haben, wie unangemessen ein solch inquisitorischer Eifer einem solchen Amt ist. Denn, wie das Verfassungsgericht am 15. Januar des Jahres 1958 geurteilt hat: Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.
Dass Meinungsäußerungen, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, aber mit dem Hassrede-Argument als staatswohlgefährend eingestuft werden, drastische Repressionen zur Folge haben können, wird sichtbar daran, dass man jüngst eine Armada von Polizisten auf Bürger gehetzt hat, die wegen irgendwelcher Posts in den Fokus diverser Meldestellen und Staatsanwaltschaften hineingeraten waren (die »Schwachkopf-Affäre« um Robert Habeck lässt grüßen). Das all dies mit Grenzbegriffen wie Hassrede oder der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates begründet wird, bezeugt nur, dass das Abwehrrecht des Bürgers einem frei flottierenden Etatismus, wenn nicht gar einem Autoritarismus geopfert worden ist. Dass dieser Autoritarismus just in dem Maße um sich greift, da die öffentliche Ordnung durch NoGo-Areas und Gewaltakte in Mitleidenschaft gezogen wird, ist dabei von besonderer Ironie. Schaut man zurück, wann dieses Elend den Bereich des Justiziablen erobert hat, kommt das Netzdurchsetzungsgesetz in den Sinn, bei dem der ehemalige Justizminister Heiko Maas, unterstützt von willfährigen Intellektuellen (und der geistigen Patenschaft eines Carl Schmitt), eine rechtliche Grauzone etablierte, die einem Rechtsstaat eigentlich unwürdig ist. Denn nunmehr waren nicht mehr Gerichte für Beleidigungen oder Gesetzesverstöße zuständig, sondern wurden die Provider für die Beiträge ihrer Nutzer in Haftung genommen – mit anderen Worten: zu Hilfssheriffs gemacht. Strukturell betrachtet hat diese Entscheidung zu einer allgemeinen Verunsicherung, vor allem aber zu einer Ausweitung der Kampfzone geführt – dazu, dass Social Media Provider im vorauseilenden Gehorsam (und zur Vermeidung von millionenschweren Strafen) sich ihrerseits bequemten, die freie Rede zu zensieren. Genau damit aber ist ein wesentliches Moment der Rechtsstaatlichkeit dispensiert. Denn so unstrittig es ist, dass wirkliche Verbrechen – und zwar von Staat wegen – geahndet werden müssen, sollte sich das Outsourcing staatlicher Hoheitsaufgaben von selber verbieten. Dass dieses Gesetz sogleich vom autokratischen Russland kopiert wurde, mag als Beleg dafür dienen, in welchem Maße hier ein illiberaler Geist Einzug in die Gesetzgebung gehalten hat. Die Folgen dieser rechtlichen Verunklarung lassen sich auch hierzulande feststellen. Denn schaut man sich die Partner an, welche der hessischen Meldestelle zuarbeiten (von HateAid, Ich-bin-hier, Körber-Stiftung, Landesamt für Verfassungsschutz, Stark-Im-Amt, Medienanstalt Hessen etc.), wird deutlich, dass man es hier mit der Institutionalisierung einer Grauzone zu tun hat – einer Unternehmung, die sehr viel mehr mit einem volkspädagogischen Wohlfahrtskomitee als mit einem Rechtsstaat zu tun hat. Politisch gesehen sind die Vorzüge dieser unheiligen Allianz mit den Händen zu greifen. Erfreut sich ein Verein wie Hate Aid einer staatlichen Förderung von 600.000 € aus dem Justizministerium (ohne welche dieser Verein nicht existieren würde), besteht der Vorteil der staatlichen Stellen darin, dass die privaten Träger mit jener ideologischen Verve auftreten können, die den (dem Neutralitätsgebot verpflichteten) Staatsvertretern aus guten Gründen untersagt ist. In diesem Sinne hat man es mit einer WinWin-Situation zu tun, bei der Staat und NGOs gemeinsame Sache machen.
Unzweifelhaft begegnet man hier der dunklen, postdemokratischen Seite der Zivilgesellschaft, wird hier doch die Staatsgewalt an private Träger ausgelagert. Nicht nur, dass sich mit dieser Form des Outsourcing staatliche Institutionen aus der Verantwortung ziehen, darüber hinaus werden sehenden Augen Incentives geschaffen, welche den selbsternannten Blockwarten materiellen Profit versprechen. Ärger noch: Weil auf diese Weise eine »moralische Ökonomie« etabliert ist, die von dem lebt, was sie bekämpft, gibt es einen beständigen Anlass, das Geschäftsmodell durch beständige Skandalisierung weiter noch zu befördern; und dies führt dazu, dass, wenn die Realität derlei Wunschgedanken nicht zu befriedigen weiß, die besorgten Wohlfahrtskomitees kurzerhand konfabulieren (wobei die Resultate dieser pseudologia phantastica sich unterdes an einer Perlenschnur aufreihen lassen). Mag sich nun jedermann zum Zensor berufen fühlen, sind die Rückwirkungen, was die staatlichen Institutionen anbelangt, fast noch besorgniserregender. Denn ebenso wie den Beamten des hessischen Innenministeriums die Maßstäbe verrutscht zu sein scheinen, hat ein illiberaler Ungeist sich der Behörden bemächtigt. Dass der Verfassungsschutz seinen eigenen Präsidenten in den Fokus nehmen konnte, ist nur ein besonders drastischer Beleg für den inquisitorischen Eifer, mit dem man heutzutage missliebigen Personen nachstellt; entscheidender noch ist der Umstand, dass nun auch Privatpersonen als Verfassungsfeinde verfolgt werden können. Dies ist das Novum, welche die gegenwärtige Praxis von den Usancen der letzten Dekaden unterscheidet. War man ehedem der Meinung, dass nur von größeren Zusammenschlüssen eine echte Gefahr für das Gemeinwesen ausgehen, mag nun ein jedermann, der sich eines Gedankenverbrechens schuldig gemacht hat, in den Fokus des Verfassungsschutzes geraten. Welch bizarre Blüten dies treibt, habe ich anderer Stelle bereits thematisiert. Was hier zu besprechen ist, ist die dahinterstehende Grundhaltung, genauer: das Paradox, das sich in diesen Maßnahmen artikuliert. Denn dass sich ausgerechnet die hochgelobte Zivilgesellschaft – immer mit starrem Blick auf die sozialen Netzwerke - zu einem solchen Blockwartverhalten hat aufschwingen können, ist höchst rätselhaft, nicht zuletzt deswegen, weil unter den Bedingungen der Digitalisierung nun jedermann eine Stimme besitzt. In diesem Sinne wäre das Versprechen eingelöst, dass in der Demokratie jede, aber auch wirklich jede Stimme zählt. Wenn die SPD der 90er Jahre, die mit Rudolf Scharping erstmals einen Vorsitzenden per Mitgliederentscheid wählen ließ, dies als Sternstunde der Basisdemokratie feiern konnte, und wenn auch Grünen sich als basisdemokratische Graswurzelbewegung konstituierten, so ist bemerkenswert, wie ausgerechnet die Profiteure der Basisdemokratie einen solchen Geisteswandel hinlegen konnte. Oder als Frage formuliert: Wie war es möglich, dass die Stimme des Volkes, in dem Augenblick jedenfalls, da sie über die sozialen Medien tatsächlich hörbar wurde, so gründlich in Verruf geraten konnte?
Wenn der Denunziant – oder der sich als digitaler Blockwart betätigende Trusted Flagger – eine Form der Gesellschaftstauglichkeit angenommen hat, mehr noch, wenn Vereine, Stiftungen und Behörden bei diesen Umtrieben gemeinsame Sache machen, dann scheint das Demokratieverständnis der Akteure selbst Schaden genommen zu haben. Man muss nur an den Hoffmann von Fallersleben zugeschriebenen, tatsächlich im sozialdemokratischen Milieu der 1880er Jahre entstandene Klageruf erinnern, um sich klar zu machen, welche gesellschaftliche Gefahr von einem solchen Denunziantenwesen ausgeht.
»Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.«2
Dass den Akteuren nicht im Entferntesten bewusst zu sein scheint, dass die Etablierung derartiger Meldestellung eine Vergiftung des Gemeinwesens darstellt, ebenso wie diese eine Einschränkung des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit bewirken, lässt befürchten, dass die selbsternannten Verteidiger der Demokratie sich gerade anschicken, zu ihren Totengräbern werden. Ein Grund für dieses Versagen liegt darin begründet, dass das, was uns als Demokratie eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, von einer tiefen Dunkelheit überlagert ist. Interessanterweise war diese Problematik schon zu Zeiten der Pentekontaetie (als die athenische Demokratie ihre Blütezeit erlebte) mit den Händen zu greifen. Denn der Historiker Herodot insistiert darauf, dass der Begriff der Demokratie (= Volksherrschaft) eigentlich an der Sache vorbeigeht, ja, dass das hervorragende Kennzeichen der athenischen Polis in der isonomia liegt, also in der Gleichheit vor dem Gesetz. Hält man sich vor Augen, dass selbst ein Gewaltherrscher wie Drakon durch das Aufstellen seiner Gesetzestafeln sich dem Gesetz unterordnete, ist evident, dass die Demarkationslinie, welche die Demokratie von der Tyrannis unterscheidet, genau darin besteht: dass auch der Herrscher selbst den Gesetzen unterworfen ist. Dies wiederum impliziert, dass eine Bevölkerung die Herrschaft der Schrift als selbstverständlich voraussetzt. In diesem Sinn ist die Akzeptanz einer höheren, symbolischen Ordnung (einer »heiligen Schrift«, wenn man so will) die Grundbedingung für ein demokratisches Gemeinwesen. Genau dies ist der Sinn des berühmten Böckenförde-Diktums, das da lautet:
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.
Sind die Voraussetzungen, d.h. die Akzeptanz einer allesüberragenden symbolischen Ordnung, nicht mehr gegeben, hat man sich, weil die isonomia selbst in Gefahr ist, auf eine höchst abschüssige Bahn begeben. Genau dies ist das Beunruhigende an den heutigen Verhältnissen. Denn die selbsternannten Verteidiger der Demokratie schrecken nicht davor zurück (»Wir sind mehr!«) , anderen Landeskindern ihre bürgerlichen Rechte aberkennen zu wollen. Die Etablierung des Paragraphen 188 (welcher das Crimen der Majestätsbeleidigung in bürgerlicher Form wiederaufleben lässt, nur dass in diesem Falle die classe politique der alleinige Nutznießer ist), ist ein schöner Beleg dafür, dass die hehren Ziele der Demokratieverteidiger in einem tiefen Konflikt mit der isonomia stehen. Staunenden Auges nimmt der Zeitgenosse zur Kenntnis, hier einem postmodernen Wiedergänger von George Orwells Animal Farm zu begegnen:
Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere
Sind bei Orwell vor allem die Schweine Snowball und Napoleon die treibenden Kräfte, assistiert von einem dritten Schwein, das den Namen Squealer trägt (=Denunziant oder Petzer), macht uns die ingeniöse Namensgebung klar, dass der ganze Sinn dieser Veranstaltung in einer Aufkündigung der isonomia besteht. Steht Napoleon für eine cäsarische Selbstermächtigungslogik, ist evident, dass mit Snowball der Schneeballeffekt gemeint ist, also das, was man, je nachdem, moralische Panik oder Politik des Ressentiments nennen mag - und beiden wiederum arbeitet der Denunziant zu. Dass der Populismus nicht nur von unten, sondern auch von oben herab betrieben werden, hat Gerhard Schröder einst mit seinem Aufstand der Anständigen vorgeführt.3 Aber assoziiert man die Demokratie allein mit dem Mehrheitsprinzip (Wir sind mehr!), gerät in Vergessenheit, dass auch eine Demokratie nicht vor der Selbstzerstörung gefeit ist (siehe die »Machtergreifung« Hitlers). Das Einzige, was sie davor bewahrt, ist, dass über alledem ein Gesetz thront, das niemandem gehört und dem sich alle bereitwillig unterordnen – die Isonomie.
Geht man den Gründen nach, welche die Demokratien in den Zustand der Postdemokratie hineingeführt haben, greift die allfällige Erklärung des Populismus zu kurz. Ebenso fragwürdig ist es, wenn man auf irgendwelche nationalen Besonderheiten abzielt: den Nationalsozialismus der Deutschen, den Kolonialismus des britischen Empires oder den Jim Crow-Rassismus der Vereinigten Staaten etc. Denn allüberall in der westlichen Welt lassen sich, mit jeweils unterschiedlicher, ›nationaler‹ Begründung, vergleichbare Entwicklungen beobachten: Ob nun das Kanada des Justin Trudeau sich mit dem Hinweis auf imaginierte Massentötungen (dem Kamloops-Genozid) in eine moralische Panik hineinsteigerte, ob der schwedische Premier Fredrik Reinfeldt behaupten konnte, „Swedish roots are nothing but barbaric. The rest of the development has come from the outside“, stets und überall hat man es mit dem Paradox einer performativen Selbstgeißelung zu tun, bei der sich die politischen Akteure, wie die Flagellanten des Mittelalters, in Sphären der moralischen Suprematie hinein steigern. Was der Philosoph Roger Scruton Oikophobie genannt hat (d.h. die Angst vor dem Eigenen), ließe sich psychologisch als invertierter Narzissmus begreifen: eine bizarre Großmannssucht, die über die Selbstanklage die moralische Oberhand zu erringen sucht. Dabei ist der Feind, gegen den man sich abzugrenzen sucht, letztlich austauschbar – nichts weiter als ein Sündenbock. Wenn man also das Kind mit dem Bade ausschüttet und sich an der isonomia vergeht, d.h. an der Grundfeste des demokratischen Gemeinwesens, so muss dies andere Ursachen haben. Die Antwort ergibt sich von selbst, wenn man sich weder von den gedanklichen Nebelkanonen noch vom rhetorischen Kanonendonner ablenken lässt, sondern sie als Folge einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung begreift. Denn zweifelsohne bedeutet das Vordringen des digitalen Psychotops, insofern es die herkömmlichen Grenzen des Gemeinwesens, der Rollenbilder und der Gesellschaftspraktiken überschreitet, eine tiefgreifende Erschütterung. In diesem Sinn ist die Flucht in den postdemokratischen Autoritarismus vor allem das Symptom einer Ohnmachtserfahrung. Man ist, wie Freud schon festgestellt hat, nicht mehr Herr im eigenen Haus. Tatsächlich ist diese gegenwärtige Erschütterung grundstürzender noch als die großen Kränkungen, die herkömmlicherweise angeführt werden: die kopernikanische Wende, die Darwinsche Evolutionstheorie und die Entdeckung des Unbewussten. Denn während diese epistemischen Risse vor allem die jeweilige Bildungselite affiziert haben, die große Masse aber weitgehend ungestört ihren Geschäften nachgehen konnte, sind nun alle Menschen, auf die eine oder andere Weise, genötigt, sich in einer radikal veränderten Welt und Gedankenlandschaft zurechtzufinden. Dies vor Augen, versteht man, dass der Kampf gegen Hass und Hetze ein Stellvertreterkrieg ist, ja, dass es im wesentlichen darum geht, sich über die Prätention digitaler Souveränität (denn dies war ja das entscheidende Argument, das zum Netzdurchsetzungsgesetz führte) über den Stand der Dinge hinwegzutäuschen, nämlich, dass man auf die eine oder andere Weise noch immer so etwas ist wie ein digitaler Analphabet. Schon der Begriff der Datensouveränität lässt sich, bei Lichte betrachtet, nur als Beleg für ein kategorisches Missverständnis deuten, ja als eine Form der Selbsttäuschung. Denn niemand würde auf den absurden Gedanken verfallen, die alphabetischen Lettern – und die von ihnen freigesetzten Geistesbewegungen (Naturphilosophie, Metaphysik, Gesetz, Logik und utopisches Denken) – mit einem Gesetzesakt einhegen zu wollen. Dass eine depotenzierte classe politique sich gleichwohl daran versucht, ja, dass man sich bei diesem Versuch an den Grundfesten der Gesellschaftsordnung vergeht, ist – schlimmer als ein Verbrechen, es ist eine Dummheit.
Postscriptum
Warum die Rückkehr der Inquisition keineswegs unwahrscheinlich ist
Gelegentlich mag die Beschäftigung mit der Geschichte durchaus hilfreich sein. So hatte das Mittelalter, in Gestalt der universalen Maschine (die, je nachdem, als Mühlentechnik, als Räderwerkautomat, als mechanische Uhr, als Zins, Arbeitsteilung, aber auch als moralisches Introjekt, als Taktgefühl und Pünktlichkeit daherkam) mit einer vergleichbaren Kränkung zu tun, wie sie uns nun zuteil wird. Schlug der Räderwerkautomat wie ein Komet im Gedankenhimmel des Mittelalters ein, war man vor allem bestrebt, sich der Zumutungen zu entledigen, die mit diesem Fremdkörper verbunden waren. So versuchte die Kirche den Protokapitalismus dadurch einzuhegen, dass sie ihrerseits einen Gnadenschatz für sich reklamierte – ein Kunstgriff, mit dem man einerseits den Phantomschmerz sediert, anderseits den Ablasshandel und das Purgatorium instituiert hatte. War dies zu Anfang ein überaus erfolgreiches Geschäftsmodell, so bewirkte die damit einhergehende psychologische Buchhaltung jedoch, dass die kognitiven Dissonanzen der Kirchenväter hervortraten – und genau dies munitionierte Luther mit jenen Argumenten, die schließlich zum Schisma führen sollten. Man könnte nun annehmen, dass in dem Maße, in dem sich das Mittelalter mit den Praktiken der Mechanisierung vertraut machte, sich die Gesellschaft damit abzufinden vermochte. Das Gegenteil aber ist der Fall. Denn wie der Mediävist Arno Borst geschrieben hat, begannen die ersten Hexenverfolgungen erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts – und der inquisitorische Eifer nahm just zu der Zeit, die wir als Renaissance und Prätext unserer Aufklärung feiern, an Fahrt auf. Girolamo Savonaralo, der mit seinen Kindersoldaten und seinem Fegerfeuer der Eitelkeiten das Florenz des späten 15. Jahrhunderts heimsuchte, mag als Beleg dafür gelten, dass das erotische Ressentiment erst dann zur Höchstform aufläuft, wenn die Rückkehr in die Vergangenheit (ein Great again!) letztlich unmöglich ist. Dass der Dominikanerpater Heinrich Kramer seinen Malleus Maleficarum, seinen Hexenhammer, fast zur gleichen Zeit veröffentlichte, als Botticelli seine Geburt des Venus malte (im Jahr 1486), bringt das historische Paradox auf den Punkt: dass nämlich Renaissance und Inquisition die beiden Seiten ein- und derselben Münze darstellen. Aber all dies liegt weit in der Vergangenheit liegt, tempi passati. Und weil sich niemand mehr erinnen mag, mögen unsere Zeitgenossen, die sich unermüdlich gegen Hass und Hetze, Fake News und die Intoxikationen des digitalen Psychotops zur Wehr setzen, es eine Tages noch fertig bringen, so etwas wie einen ultimativen Nazihammer zu schreiben.
Welch bizarre Blüten die unermüdliche Suche nach dem Sündenbock hervorbringt, hat Annalena Baerbock vorgeführt, als sie anlässlich ihrer Bundestagsabschiedsrede den Greatest Hits ihrer Sprachentgleisungen einen Gedankenblitz hinzufügte, den man einen salto mortale – oder passender noch: einen dreifachen Baerbock – nennen könnte.»Die AfD ist nicht nur eine Gefahr für dieses Parlament, sondern auch dafür, dass Deutschland jemals wieder Fußballweltmeister wird.« Mag dieser Kurzschluss die Baerbocksche Absurditätsskala in ungeahnte Höhen hinaufgetrieben haben, wäre es doch zu kurz gegriffen, wenn man dies bloß als rhetorische Stilblüte, ja, als eine Form der Logorrhoe abhandeln wollte.
Das Zitat geht auf den Autor Max Kegel zurück, der sich auch als Agitator gegen Bismarcks Sozialistengesetz engagierte. Er schrieb: Verpestet ist ein ganzes Land, / Wo schleicht herum der Denunziant. […] Der Menschheit Schandfleck wird genannt / Der niederträcht’ge Denunziant.
Tatsächlich ist diese Episode insoweit erhellend, als der Anlass, der zum Aufstand der Anständigen führte (nämlich ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge im Jahr 2000) keineswegs auf die üblichen Verdächtigen zurückging – Rechtsextreme, Fremdenfeinde und Antisemiten –, sondern auf einen Marokkaner und einen aus Jordanien stammenden Palästinenser. Nichtsdestotrotz führte die reflexhafte Schuldzuweisung nicht bloß zu Lichterketten, Demonstrationen und Aktionsplänen, sondern mündeten sogleich in den Beschluss, beim Bundesverfassungsgericht ein NPD-Verbotsverfahren einzuleiten.
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