Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Beinahe scheint es, als ob wir in eine nicht-enden-wollende Geisterstunde eingetreten wären – kehren doch längst überwunden geglaubte Gespenster zurück. Nehmen wir das Phänomen der Majestätsbeleidigung. Mag dies einem Amerikaner so bizarr und fremdartig vorkommt wie ihm das Wort unbekannt ist (lèse-majesty), weiß hierzulande doch jedermann, was damit gemeint ist – auch wenn sich dieses Residual vergangener Zeiten so fern anfühlt wie die Aufforderung zu einem Duell. Denn in der Folge der Böhmermann-Affäre (die ausgebrochen war, weil dieser den türkischen Autokraten, wenig elegant, als Ziegenficker bezeichnet hatte), konnte die classe politique stolz vermelden, dass damit der letzte Überrest des kaiserlichen Majestätsbeleidungsparagraphen abgeschafft sei.1 So weit, so demokratisch. Tempi passati, könnte man meinen. Wenn, ja wenn unsere Politikerklasse nicht überaus dünnhäutig geworden wäre und über Nacht mit dem § 188 des StGB einen Straftatbestand eingeführt hätte, welcher das ursprüngliche Crimen in neuer Form wiederbelebt. Da vor allem die Träger eines öffentlichen Amtes, bis in die kommunale Ebene hinab, hier eine besondere Schutzwürdigkeit zugesprochen bekamen, könnte man von einer Majestätsbeleidigung ohne Majestät sprechen – wobei, und dies ist erstaunlich, die Demokratisierung der kaiserlichen Immunität nicht mit einer Linderung der Strafe, sondern mit einer ausgesprochenen Verschärfung einherging. Nun verwundert es nicht, dass man bei der Begründung dieses Revirements den Bezug zur Majestätsbeleidigung unterschlagen und sich stattdessen etwas Neues hat einfallen lassen. Weil man bereits bei der Begründung des Netzdurchsetzungsgesetzes auf das Konzept der digitalen Souveränität gestoßen war, war es ein Leichtes, hier einen Schritt weiterzugehen und die Kritik an den politischen Repräsentanten gleich mit dem Verdacht der Hassrede zu belegen. Und so lautet der erste Satz, mit dem das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität begründet wird, wie folgt:
Im Internet und insbesondere in den sogenannten sozialen Medien ist eine zunehmende Verrohung der Kommunikation zu beobachten. So äußern sich Personen immer öfter allgemein, vor allem aber gegenüber gesellschaftlich und politisch engagierten Personen in einer Weise, die gegen das geltende deutsche Strafrecht verstößt und sich durch stark aggressives Auftreten, Einschüchterung und Androhung von Straftaten auszeichnet. Dadurch wird nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen, sondern auch der politische Diskurs in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung angegriffen und in Frage gestellt.2
Und weil die Herrschaften mit der Gefährdung des demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung ein großes Fass aufgemacht hatten, konnten sich die politischen Repräsentanten damit ein Sonderrecht einräumen, das sie mehr oder minder mit der Demokratie gleichsetzte und vor dem schützte, was man ehedem den großen Lümmel genannt hatte.
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
(Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen)
Eine Lektion, wie sich dieses Gesetz auf den gemeinen Untertan auswirkte, erhielt der bayerische Unternehmer Michael Much, der sich, wohl weil er sich eine Talkshow zuviel angeschaut hatte, grün und blau geärgert hatte. Und weil er seinen Unmut über die grüne Führung kundtun wollte, im Internet zudem eine Reihe von witzigen Vorlagen gefunden hatte, schritt er zur Tat und stellte im September 2023 zwei großformatige Plakate in seinem Garten auf:
Die Folge: Ein paar Wochen später, am 25. Oktober 2023, rückte die Polizei vor seinem Anwesen an. Obschon das corpus delicti für jedermann sichtbar auf dem Privatgrundstück des Unternehmers prangte, beließ man es nicht bei einer Gefährderansprache, sondern durchsuchte sein Haus nach weiteren Beweismaterialien. Der Hintergrund: Weil der Unternehmer nicht sogleich einräumen wollte, dass er die Plakate höchstselbst dort aufgestellt hatte, weil man andererseits in Erfahrung gebracht hatte, dass er auf seinem Grundstück eine Videoüberwachung installiert hatte, wollte man über das beschlagnahmte Videomaterial herausfinden, wer die Plakate aufgehängt hatte. Und mit der drohenden Staatsmacht konfrontiert, war der gute Mann geständig und räumte ein, dass er die Plakate aufgestellt hatte. Also konfiszierte man die Plakate und zog von dannen. Ein paar Wochen später flatterte ein Schreiben der Staatsanwaltschaft München II ins Haus, das dem Unternehmer wegen eines Verstoßes gegen den § 188 des StGB (den wiederaufgelegten »Majestätsbeleidigungsparagraphen«) eine Strafzahlung von 6.000 € auferlegte. Höchst pikant daran: Es war die Außenministerin Annalena Baerbock höchstselbst, welche den Strafantrag unterschrieben und die Klage ins Rollen gebracht hatte – ein Gedanke, der dem Unternehmer nachgerade unvorstellbar erschien, war er, mit diesem Faktum konfrontiert, überzeugt, dass die Unterschrift nur eine Fälschung sein könne. Dem aber war keineswegs so. Ganz offenkundig, das war die einzig plausible Schlussfolgerung, hatte die graphische Darstellung der Außenministerin, die auf dem Plakat als schmollender, keineswegs unsympathischer Trotzkopf dargestellt war, sie dazu bewegt, ihren Wilhelm, nein, ihre Wilhelmine unter den Strafantrag zu setzen. Schaut man sich die Plakate an, fragt man sich, worin das Ehrverletzende und Verleumderische dieser Aussagen eigentlich besteht. Denn abgesehen von der rhetorischen Frage und dem Plattmacher-Titel handelt es sich um wörtliche Zitate der fraglichen Personen – also nichts, was man auch nur annähernd dem Böhmermann’schen ›Ziegenficker‹ hätte gleichsetzen können.
Vergleicht man dies mit einem Fall, der im Schweden des Jahres 2012 ruchbar wurde, sticht die Empfindlichkeit noch mehr ins Auge. Denn hier gerieten gefälschte Ein-Kronen-Münzen in Umlauf, auf denen statt der üblichen Prägung »Carl XVI. Gustaf, Schwedens König« die Worte "Unser Hurenbock von einem König" zu lesen war – eine Aktion, die weder einen Prozess noch ein Gerichtsverfahren zur Folge hatte. Wie dünnhäutig dagegen das hiesige Polit-Personal sich gebärdet, wird deutlich, wenn man die ›Majestätsbeleidigung ohne Majestät‹ mit dem alten, seit dem Kaiserreich für bürgerliche Personen reservierten und fast unverändert ins Strafgesetzbuch aufgenommenen Beleidigungsparagraphen (§ 185) vergleicht. Dieser sah eine Geld- oder eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr vor, wobei sich eine tätliche Beleidigung, eine Ohrfeige etwa, um ein weiteres Jahr strafverschärfend auswirkte. Demgegenüber fährt der §188 wahrhaft martialische Geschütze auf:
(1) Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine Beleidigung (§ 185) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Das politische Leben des Volkes reicht bis hin zur kommunalen Ebene.
(2) Unter den gleichen Voraussetzungen wird eine üble Nachrede (§ 186) mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren und eine Verleumdung (§ 187) mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Ganz offenkundig verknüpft der § 188 den Beleidigungsparagraphen3 mit der Problematik der Hasskriminalität, der man einen weit größeren Schadenswert zuspricht als einer Ohrfeige. Und weil man den Schutz der im politischen Leben des Volkes stehenden Personen auf die gesamte Politikerkaste ausgedehnt hat, bis hinab „zur kommunalen Ebene“, hat man es hier mit einem Politikerprivileg zu tun. Von der maiestas der Demokratie und des Gemeinwohls umhüllt, ist man von den gewöhnlichen Sterblichen qua Amt kategorisch unterschieden – was Wolfgang Kubicki in schöner Schnoddrigkeit in Bezug auf Robert Habeck folgendermaßen formulierte: glaubt wohl, »er sei der Gesalbte«.
Zwar mag man sich als gesetzlich verbriefter Verteidiger der Demokratie gebärden, jedoch verrät die Dünnhäutigkeit, dass man sich eher wie ein Königskind der Moderne gebärdet. In jedem Fall ist die Strafverfolgungswut der Repräsentanten so groß, dass sie die Zahl der kaiserlichen Majestätsbeleidungsprozesse bei weitem übersteigt. Beliefen sich diese in den dreißig Jahren von 1888 bis 1918 auf 12.000 Anklagen, konnte Robert Habeck binnen eines Jahres bereits 805 Strafanzeigen auf sich verbuchen, während Annalena Baerbock auf 497 Anzeigen kam – eine Aktivität, die nur für diese beiden Politiker das Dreifache der kaiserlichen Verletzungen aufweist.4 Was sich in diesem Gebaren zeigt, ist jene Selbstermächtigungslogik, die sich bereits mit dem Begriff der digitalen Souveränität artikuliert hat. Geht man in die Rechtsgeschichte zurück, geht das crimen laesae maiestatis, also das Verbrechen der Majestätsverletzung, bis in die Antike zurück – und bezieht sich auf Aktionen, die gegen die Polis als Ganze gerichtet waren: also eine Verschwörung mit dem Ziel eines Umsturzes - oder Hochverrat, mit anderen Worten. Weil sich in Rom die Macht privatisierte, wandelten die römischen Kaiser seit Tiberius die Immunität zu einem kaiserlichen Vorrecht um – und ahndeten Vergehen gegen den Kaiser, seine Familie und seine Vorrechte mit der Todesstrafe. Mit der lex Quisquis des Arcadius aus dem Jahr 397 wurde bereits die Absicht strafbar, ein crimen maiestatis zu begehen – zudem ließ man auch die kaiserlichen Beamten an der Immunität ihres Herrschers teilhaben. Könnte man die Majestätsbeleidung – das crimen laesae maiestatis – als Schutzmechanismus einer bestehenden Ordnung, in jedem Falle einer weltlichen Herrschaft begreifen, erfolgte im Mittelalter eine tiefgreifende Umdeutung. Denn Papst Innozenz III. gesellte der Majestätsbeleidigung, also dem Vergehen gegen die weltliche Ordnung, ein Verbrechen gegen die göttliche Ordnung hinzu, nämlich die Häresie – womit die Majestätsbeleidigung als Beleidigung Gottes sich auch im Kirchenrecht verankerte. Weil die weltlichen Herrscher fortan als Gesalbte galten, als Stellvertreter Gottes auf Erden, konnte der deutsche Jurist Benedict Carpzov (*1595 – 1666) den verbalen, erst Recht aber den tätlichen Angriff auf den Landesherren als ein Vergehen an der himmlischen Ordnung interpretieren. Dieser Zusammenhang ist insofern interessant, als Carpzow vor allem für seine Practica Nova und seinen Peinlichen Sächsischen Inquisitions- und Achtprozeß juristische Geltung erlangte – was einen Gelehrten des 19. Jahrhundert dazu brachte, sein juristisches Œuvre als einen »protestantischen Hexenhammer« zu bezeichnen. Tatsächlich wimmelt es in dem Denken dieses fürchterlichen Juristen nur so von Begriffen wie Teufelsbuhlschaft, Schadenszauber etc. Folglich war Carpzow von der Realität teuflischer Künste zutiefst überzeugt – und als pedantischer Jurist der Meinung, dass der Pakt mit dem Teufel nur eine einzige Strafe verdiene: den Feuertod. In jedem Falle aber befand Carpzov, dass der verbale, erst recht der tätliche Angriff auf den Landesherrn das schlimmste Verbrechen überhaupt sei. Nimmt man diese Vorgeschichte in den Blick, führt die Majestätsbeleidigung in wahrhaft dunkle Zeiten zurück – und man mag nachgerade dankbar sein, dass im deutschen Reich nur der Kaiser ein solches Privileg für sich beanspruchen konnte.
Nun ist evident – und die Abschaffung des alten Majestätsbeleidigungsparagraphen im Gefolge der Böhmermann-Affäre ist beredtes Zeugnis dafür -, dass wir es beim § 188 zwar mit einem geistigen Wiedergänger zu haben, der eine gewaltige historische Ladung in sich trägt, aber dass dieser sich ein neues Gewand übergezogen hat. Nicht zufällig hat man den Paragraphen in eine höchst gesittete Ordnung gekleidet, wird man nicht müde zu behaupten, dass es bei alledem doch nur darum gehe, die Demokratie vor ihren Verächtern zu schützen. Nun mögen sich die Erfinder des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität als wahre Verfassungspatrioten gebärden, jedoch macht der hier heraufbeschworene metaphysische Nazi klar, dass man nicht unbedingt im Felde der politischen Ratio agiert, sondern in einer Schreckenskammer, die einige Verwandtschaft zu Carpzows Gedankenwelt aufweist. Ärger noch als der Glaube an den Schadenszauber ist der Umstand, dass das Gesetz, insofern es einer ganzen Kaste ein Sonderrecht zuspricht, den Grundgedanken der isonomia außer Kraft setzt, also: der Gleichheit vor dem Gesetz. Der Kurzschluss ist der nämliche wie im Falle der digitalen Souveränität. Wie dort wird das Privileg der Sammelperson – die Schutzwürdigkeit des Gemeinwohls - an eine Einzelperson delegiert, also privatisiert. Folglich kann sich nun jeder Kommunalpolitiker, und sei es der Bürgermeister eines 100-Seelen-Sprengels als Gesalbter wähnen, der sich auf diese Weise der Anfeindungen des Internet-Plebs erwehren kann. Hält man sich vor Augen, dass die Politiker in den Anfängen der Internet-Ära politisches Kapital dadurch errangen, dass sie sich als basisdemokratisch, ja als politische Graswurzelbewegung gebärdeten, besteht das Kuriosum nun darin, dass die Profiteure dieser Bewegung nun gegen die Konsequenzen dieser Welt Sturm laufen, den Umstand, dass nun jedermann*frau*divers eine Stimme besitzt, dass die Logik der Repräsentation vorüber ist und die alten Eliten Geschichte sind. Dass man die Remedur darin sieht, sich als Königskind der Moderne zu gerieren und das entsprechende Beleidigungslevel zu kultivieren, ist eine Groteske, die allem zuwiderläuft, was die maiestas ursprünglich zu schützen suchte. Wie problematisch dies ist, wird sichtbar daran, dass die Zahl der Beleidigungen nicht selten als badge of honor aufgefasst wird, als Ehrabzeichen, mit dem ein Politiker sich seiner Reputation versichert. Folglich nimmt es nicht wunder, dass sich vor allem Hinterbänkler à la Helge Lindh im Kampf gegen Internet-Hassrede hervortun, ja, dass Akteure, die verzweifelt nach Aufmerksamkeit gieren, die Aktionen ihrer vermeintlichen Gegner selbst veranlassen, wie etwa der Erkelenzer Ratsherr Manoj Jansen, der sich Rasierklingen per Post zusandte und sein eigenes Klingelschild mit einem Hakenkreuz beschmierte. Vergleicht man diesen invertierten Narzissmus, der sich an der Selbstviktimisierung erhält, mit den Ehrverletzungen des 19. Jahrhunderts, bei denen die Kombattanten in der Morgenfrühe zu einem Duell auf Leben und Tod schritten, ist der Wandel der Sitten augenfällig – und ganz offenkundig geht er nicht allein auf die Verbalinjurien der Internetnutzer zurück. Wieviel die Ehrpusseligkeit der Politiker mit der Aufmerksamkeitsökonomie und dem digitalen Betriebssystem der Gegenwart zu tun hat, wird sichtbar daran, dass die Verfolgung vermeintlicher Straftaten längst zu einem Geschäftsmodell geworden ist, bei dem die klassische Ehrverletzung zu einem maschinellen Abmahnverhalten führt. Genau dies ist das Geschäftsmodell der Firma SoDone, die unter den Überschrift „Hass im Netz abschalten“ eine AI-augmentierte Verfolgung der politischen Gegner verspricht. Die Geschichte der Firma, die aus gerade 3 Leuten besteht, ist einfach erzählt. Da war eine junge Studentin, die an der Universität Oxford Europäische Politik studiert – und sich von einem Mitbewohner eine Software schreiben ließ, welche »öffentlich zugängliche Kommentare in Sozialen Medien nach relevanten Äußerungen gegenüber der zu schützenden Person durchsucht« . Weil dieser Bot eine sehr kostengünstige Lösung versprach, wurde schnell ein Geschäftsmodell daraus. Zudem konnte man auf ein höchst empfängliches politisches Umfeld rechnen. Folglich erzielte das StartUp beim Gründerwettbewerb des Landes Nordrhein Westfalen den dritten, mit 10.000 € dotierten Preis - und konnte alsbald den Landesvater Hendrik Wüst, die Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Robert Habeck zu seinen Kunden zählen. Dass sich Ministerpräsident Wüst ebenso wie Robert Habeck zusätzlich als Werbeträger für diese „Majestätsbeleidigung“-Abmahnanwälte einspannen ließen, lässt auf ein robustes, man könnte auch sagen: ataraktisches Amtsverständnis schließen.
Wurden die Herren unterdessen gerichtlich abgemahnt, dies zu unterlassen, ändert dies nicht das Geringste am Geschäftsmodell der Unternehmung. Folglich ist die AI-augmentierte Abmahnmaschine noch immer am Werk – und lädt, mit einem vertraulichen Du gerüstet, das Publikum nun dazu ein, sie mit den entsprechenden Materialien zu füttern:
Der Umstand, dass man glaubt, eine KI könne die Ehrverletzung verlässlich verbürgen (und damit glaubt werben zu können), bezeugt, wie weit sich der Ehrbegriff von der Person gelöst und in eigentliche androide Gefilde hinüber gedriftet ist (wo es sehr viel passender wäre, wenn dieser Bot sich nicht Menschen, sondern andere Bots vornähme). Anderseits ist die Ungleichheit der Waffen Programm, hat der Wahnsinn Methode. Und weil man sich an den Politikern ein Beispiel nehmen konnte, die ihre Beleidigungsprozesse nicht auf eigene Rechnung, sondern auf Staatskosten führen, wirbt die Firma damit, dass der Beschwerdeführer keinerlei finanzielle Risiken eingeht und man den Erfolg, so er sich einstellen will, zu gleichen Teilen aufteilen kann:
Wenn der Täter eine Geldentschädigung zahlen muss, erhältst du von dieser 50%. Die anderen 50% nutzen wir, um unser Unternehmen zu finanzieren und weitere Prozesse zu führen. Du bist im Erfolgsfall beteiligt, sollte es nicht zu einer Geldentschädigung, wohl aber zu Kosten kommen, übernehmen wir diese selbstverständlich für dich.
Welche Konsequenzen derlei Praktiken im Alltag haben, musste der Rentner und ehemalige Bundeswehrsoldat Stephan Niehoff erleben, der den Fehler begangen hatte, einen Twitter-Feed weiter zu verbreiten. Dieser war eine Variation einer Werbung, bei der ein Witzbold den Firmennamen „Schwarzkopf“ durch „Schwachkopf“ ersetzt und das Bild unseres wuschelhaarigen Wirtschaftsministers darüber gesetzt hatte. Weil Robert Habeck, der sich durch diesen Retweet und Niehoffs 175 Twitter-Follower in seinem politischen Wirken beeinträchtigt sah, den Strafbefehl unterschrieben hatte, baute sich um 6. 15 Uhr in der Frühe die Polizei vor Niehoffs Wohnungstür auf und begehrte, mit einem Durchsuchungsbeschluss der Bamberger Staatsanwaltschaft ausgerüstet, Einlass. Die Pressemeldung der Polizei Schweinfurt lautete daraufhin:
Wegen dieses „Tatverdachts einer gegen Personen des politischen Lebens gerichteten Beleidigung gem. §§ 185, 188, 194 StGB erfolgte am vergangenen Dienstag, 12.11.2024, eine richterlich angeordnete Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten durch Polizeibeamte der Kriminalpolizei Schweinfurt. Hierbei konnte ein Tablet des Beschuldigten sichergestellt werden.
Was man sich von der Beschlagnahmung seines technischen Geräts erhoffte, war unklar – war der ehemalige Bundeswehrfeldwebel ja nicht einmal der Urheber des fraglichen Posts, sondern nur derjenige, der ihn für witzig befunden und deshalb weiterverbreitet hatte. Weit wichtiger ist jedoch die Wirkung, die von solchen Übergriffen ausgeht. Wie Mao TseTung diese Logik auf einen Punkt gebracht hat:
Bestrafe einen, erziehe hundert!
Ob derlei wirklich aufgeht, ist fraglich, kann es durchaus sein, dass Habecks „Schwachkopf-Gate“ zu einem verlässlichen Begleiter seines politischen Wirkens wird.
Es ist zweifellos so, dass die sozialen Medien es den Menschen überaus leicht machen, die niederen Engel ihrer Menschennatur zu entfalten. Wenn es nur eines Klicks bedarf und man zudem, von einer digitalen Tarnkappe geschützt, die eigene Niedertracht nach Belieben austoben kann, nimmt es nicht wunder, dass sich Kommunikationsformen etablieren, die dort, wo man dem anderen ins Gesicht schauen würde, sich im Grunde verböten. Nun ist, was mit dem unscharfen Rechtsbegriff der Hasskriminalität belegt worden ist, die Kehrseite einer Entwicklung, die vor kurzem noch lauthals bejubelt worden ist: der Umstand, dass (anders als unter den Bedingungen der repräsentativen Demokratie) nun jedermann eine Stimme besitzt. In diesem Sinne arbeitet das digitale Betriebssystem unserer Tage dem zu, was wir als Rhizom, als Graswurzelbewegung oder als Basisdemokratie goutieren. Anstatt die Verschiebung des politischen Raumes jedoch zur Kenntnis zu nehmen, machen die politischen Repräsentanten von den hinzugekommenen Wunschmaschinen Gebrauch, nur um sich im gleichen Atemzug darüber zu beschweren, dass der politische Gegner auf die gleiche Art und Weise verfährt: Protect me from what I want! Dass der Gesetzgeber unter diesen Bedingungen den Ehrbegriff des 19. Jahrhunderts reaktiviert, ja, dass man in der Welt der Dividuen soetwas wie digitale Souveränität dekretiert, bezeugt eine tiefe Gegenwartsblindheit. Nein, ärger noch! Denn die Schutzmaßnahmen, mit denen die Volksvertreter das Gemeinwesen vor den Rohheitsdelikten der Internetwelt zu schützen vorgeben, entpuppen sich als Anschlag auf die Demokratie selbst. Denn mit der besonderen Schutzwürdigkeit der Staatsvertreter hat man die isonomia beschädigt, also:
die Gleichheit vor dem Gesetz
Und diese ist laut Herodot das vornehmste Kennzeichen der Demokratie. Die Gleichheit war in der Antike dadurch gewährleistet, dass man das Gesetz verschriftlicht und damit sakralisiert hatte – mit der Folge, dass auch die Herrscher dem Gesetz untertan waren. In diesem Kontext markiert das neue, digitale Betriebssystem des Kapitalismus eine Verschiebung des politischen Raumes – von der Alphabetschrift hin zum Code, von den Buchstaben des Gesetzes hin zu einer verflüssigten Ordnung, die noch auf der Suche nach den entsprechenden Institutionen ist. Das politische Denken jedoch, das sich mit der Behauptung der digitalen Souveränität das Recht herausgenommen hat, über alle erdenklichen Gedankenverbrechen befinden zu können, zielt in die genau entgegengesetzte Richtung. Denn indem man sich als Kontrolleur des geistigen Betriebssystems aufspielt, hat man den Respekt, den die Alten dem geschriebenen Wort entboten, den eigenen Machtgelüsten geopfert. Von daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass und warum ausgerechnet Carl Schmitt zum Souffleur der digitalen Souveränität werden konnte – hat er doch dekretiert, dass die Souveränität darin bestehe, über den Ausnahmezustand befinden zu können. Und genau dieser Ausnahmezustand ist ausgerufen, wenn sich nun, unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, alle erdenklichen Ehrpusseligkeiten austoben können. Wenn die Menschen, mit einer solchen Machtfülle begabt, sich als Königskinder der Moderne gerieren, wenn die narzisstische Demütigung sich in geballtes Ressentiment, ja, eine regelrechte Strafverfolgungswut transformiert, ist der Bürger zum virtuellen Werwolf mutiert, zum homo homini lupus.
Wenn die wunderbare Anthropologin Mary Douglas es als das Kennzeichen einer Zivilisation gesehen, dass man hier nicht für das verurteilt werden könne, was man in den Träumen anderer verbrochen habe, stellt sich die Frage:
Könnte es sein, dass wir uns zurück in finstere Zeiten bewegen?
Ps. 17.12.2024, Der Firma SoDone, resp. ihrem Anwalt Brockmeier ist es unterdessen mit der Drohung eines Ordnungsgeldes von 250.000 € gerichtlich untersagt worden, ihre Dienste umsonst anzubieten, da derlei “unlautere anwaltliche Werbeversprechen und Werbeangebote” dem anwaltlichen Berufsrecht zuwiderlaufen.
Der abgeschaffte § 103 der StGB bezog sich nicht mehr auf das einheimische Staatsoberhaupt, sondern auf ausländische Potentaten und drohte bei ihrer Beleidigung eine Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren, im Falle einer verleumderischen Beleidigung eine von drei Monaten bis zu fünf Jahren an. Die einhellige Meinung war: Dieser Paragraph, der eine Variante der kaiserlichen “Majestätsbeleidigung“ darstellte, stamme aus einer Zeit, die man politisch, moralisch und geistig hinter sich gelassen haben, sei aus heutiger Sicht antiquiert und gehöre deswegen abgeschafft. Dem kam der Bundestag nach, und so beschloss man am 1. Juni 2017 einstimmig die Abschaffung des § 103 StGB; diese trat ein Jahr später am 1. Januar 2018 in Kraft.
§ 185 StGB.
Spitzenreiter in diesem Feld ist die FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann, die mehr als 100 Strafanzeigen pro Monat stellt.
Nein, wir bewegen uns nicht zurück in finstere Zeiten, wir machen nur weiter damit, mit modernen Ansichten und Mitteln.