Vor gut zehn Jahren, bei der Arbeit an meiner Digitalen Renaissance, als mein Blick wie zufällig auf Beckets Warten auf Godot im Bücherregal fiel, erschien mir dieser Satz, wie eine Eingebung, vor dem inneren Auge: Warten auf Savonarola! Nun muss man kein Prophet sein, um gewisse Strukturähnlichkeiten zu erkennen, gemahnt doch vieles, was sich derzeit vor unseren Augen abspielt, an jene Zeit, da dieser Dominikanermönch das Florenz seines Tage – den politisch vielleicht avanciertesten Stadtstaat der Zeit – in Turbulenzen stürzte. Allerdings: Im Urteil der Historiker erweist sich Savonarola als höchst schillernde, geradezu paradoxe Gestalt. Denn hier schwankt das Urteil zwischen dem Bild eines fanatischen Finsterlings und dem Porträt eines ersten bürgerlichen Führers. Es war ausgerechnet ein Mitglied der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, der in seinem Aufsatz Egoismus und Freiheitsbewegung Savonarola als Prototyp eines bürgerlichen Führers charakterisierte.
Nun mag dies in Anbetracht seines dunklen Schattens eine geradezu kontraintuitive Einordnung sein, jedoch lassen sich durchaus Argumente für eine solche Einordnung finden. Dafür spricht, dass auf Savonarola die erste Florentiner Verfassung zurückgeht, des weiteren, dass er auf eine »[g]erechte Verwaltung, unbestechliche Beamtenschaft, politische Klugheit, Wahrung des Amtsgeheimnisses, Bestrafung nationaler Unzuverlässigkeit, vor allem Reform der Rechtspflege und überhaupt gewissenhafte Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten«1 plädierte. Unzweifelhaft war Savonarola in seinem Kampf gegen die florentinischen Patrizier, vor allem aber die Medici, ein Vertreter der bürgerlichen Schichten; auch sein Kampf gegen den Vatikan, der sich in Gestalt des Rodrigo Borgia den vielleicht korruptesten Kleriker zum Papst Alexander VI. erwählt hatte, konnte auf das Ressentiment dieser Schicht setzen – ein Widerwille, den Horkheimer gleich ins Register des Erotischen überführt:
Hinter dem Haß gegen die Kurtisane, der Verachtung gegen die aristokratische Existenz, der Wut über jüdische Unmoral, über Epikuräismus und Materialismus, steckt ein tiefes erotisches Ressentiment, das den Tod ihrer Repräsentanten verlangt. Sie sind, möglichst unter Qualen, auszulöschen; denn der Sinn der eigenen Existenz wird jeden Augenblick durch die ihrige in Frage gestellt.2
Nun ist in der Biografie des Savonarola eine seiner geistlichen Berufung vorausgehende Episode verbürgt, die den jungen Kaufmannssohn auf Freiersfüßen zeigt, hatte er sich doch unsterblich in die Tochter eines Florentiner Patriziers, Roberto Strozzi, verliebt.
Zwar war Laudomia selbst eine uneheliche Tochter, aber sie erteilte dem Verehrer nichtsdestoweniger eine herbe Abfuhr: »Wie, du bildest dir ein, das vornehme Blut und Geschlecht Strozzi lasse sich zu einer Verbindung mit dem Hause Savonarola herab?« Das Moment der Beschämung wandelte sich nicht bloß in Ressentiment, sondern ließ den abgewiesenen Liebhaber Zuflucht im Schoße der Kirche finden – konnte er sich hier jener höheren Moral überlassen, welche die Erinnerung an die erlittene Scham auslöschte und das Ressentiment in einer Form der Phantomlust aufgehen ließ.3 Insofern greift man zu kurz, wenn man in Savonarolas Wüten gegen die verderbten Patrizier eine Form der bürgerlichen Ratio am Werk sieht. Zweifellos hat man es mit unbewussten Prozessen, ja geradezu einem Moment der Spaltung zu tun. Und hier steht der bürgerlichen Ratio ein nicht minder kraftvoller Persönlichkeitsteil gegenüber – eine Logik, die definitiv an Stephensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde gemahnt. Denn schaut man sich an, wogegen sich der ›bürgerliche Führer‹ wendet, ist unübersehbar, dass die inkriminierten moralischen Lockerungen versagte Versuchungen sind - Epiphänomene des entstehenden Kapitalismus. Von daher wären die Predigten des Savonarola als Ausdruck eines höchst paradoxen Begehrens zu lesen:
Protect me from what I want. (Jenny Holzer)
Tatsächlich – und dies lässt die These Horkheimers zumindest wanken – sind es just diese antimodernen Impulse, die Savonarola an die Macht bringen. Denn wenn er in den Wirren der Zeit, in denen sich Florenz von seiner autokratischen Führung losgesagt hatte (den Medici), zugleich aber mit dem französischen König und einem korrupten Papst zu kämpfen hatte, zu einem moralischen Fixstern werden konnte, so deswegen weil er sich – mit einem sicheren Instinkt für die charismatische Führung - als weissagender Prophet Gottes gebärdete. Genau darin bestand seine Anziehungskraft für die Masse.4 Aber letztlich sind es die von ihm angestoßenen Regierungsmaßnahmen selbst, in denen der antimoderne Zug hervortritt. Dass man den catasto abschafft, also das Steuersystem, das die Stadt durch die verschiedenen Auseinandersetzungen gebracht hat, dass man des weiteren die Zinsnahme unter Verbot stellt, ist ein Beleg, wie weit sich das chiliastische Denken vom Betriebssystem der bürgerlichen Gesellschaft entfernt hat – ja, dass man glaubt, umstandslos zu einer christlichen Moral zurück schreiten zu können. In diesem Sinn ist der Schuldenberg, den Savonarola aufhäuft, der monte de pietà, vor allem Beleg für eine Zeit- und Wirklichkeitsvergessenheit.
Nun war Bruder Girolamo keineswegs allein in seinem »erotischen Ressentiment«, sondern konnte sich auf große Teile der Florentiner Bürgerschaft stützen. Und genau dies sollte Anlass sein, das, was wir uns als Heroengeschichte der Renaissance erzählen (»die Entdeckung der Welt und des Menschen«, wie Jacob Burckhardt dies genannt hat), einer etwas kritischeren Betrachtung zu unterziehen. Denn wenn die Geschichte eine Signatur verrät, so weist sie eine unübersehbare Verwandtschaft zu Antonio Gramscis Interregnum auf – jener Übergangsepoche, bei der das Alte nicht sterben und das Neue nicht auf die Welt kommen will. Übersetzen wir den Begriff des erotischen Ressentiments in eine etwas plausiblere Psychologie zurück, könnte man die Mentalität der Epoche folgendermaßen charakterisieren. In ihren Praktiken und in ihren Ansprüchen macht sich zweifellos ein Vorschein neuzeitlichen Denkens bemerkbar. In diesem Sinn sind die Bewohner der Stadt neuzeitliche Wesen, die mit ihren mittelalterlichen Vorläufer nicht mehr viel gemein haben. Insofern ist Ernst Piper zuzustimmen, wenn er schreibt:
Was Savonarola mit aller Entschlossenheit bekämpfte, war das mittelalterliche Körpergefühl, das unmittelbare Verhältnis zum eigenen Leib, das dem zivilisierten Europa der Neuzeit so »barbarisch« und »heidnisch« anmutete.5
Aber weil die Modernität dazu führt, dass man sich der Glaubensgewissheiten beraubt sieht, ist die Epoche mit einer Empfindung eines tiefen Phantomschmerzes geschlagen. Genau an dieser Stelle wird der Auftritt Savonarolas verständlich: Denn indem er die Herrschenden der Korruption und des Sittenverfalls geißelt, können sich die weniger Begüterten im Schein der moralischen Integrität sonnen. Dass man dabei die Tugend nicht leben muss, sondern dass es ausreicht, als Tugendwächter die Überschreitung der Anderen zu inkriminieren, ist ein Freibrief zur moralischen Enthemmung. Wenn Carl Schmitt (im Rückgriff auf Theodor Däubler) gesagt hat, der Feind ist die eigene Frage in anderer Gestalt, so lassen sich die Zumutungen des neuen Zeitalters an den anderen delegieren.6
Lernet Ehrbarkeit von den Türkinnen, die sogar ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier verhüllen! (Savonarola)
Auf diese Weise lässt sich das paradoxe Begehren (das erotische Ressentiment) auf geradezu perfekte Weise ausleben: Wünscht man dem Feind alle erdenklichen Übel an den Hals, kann man andererseits im Vollgefühl der eigenen Macht und der Suprematie schwelgen.
An dieser Stelle versteht man die überragende Rolle der Kinderpolizei, derer sich Savonarola zur Durchsetzung seiner Ziele bediente. Im Kind verbinden sich kindliche Unschuld, Leichtgläubigkeit und jener moralische Rigorismus, der nur Schwarz oder Weiß kennt. Folglich wurden die Kinder in den von Savonarola organisierten Prozessionen zu Engeldarstellern, welche die Züge anführten – und auf die die Ordensgeistlichen, der Klerus und dann erst die Bürger folgten. War damit eine Form der kindlichen Suprematie etabliert, war es nur logisch, sie zur Überwachung der öffentlichen Ordnung anzustacheln. Wie effizient die Kinder dies taten, und welche beträchtliche Gewaltdrohung von ihnen ausging, lässt sich im Tagebuch des Luca Landucci nachlesen:
Und am 27. wurden die Kinder vom Frate darin bestärkt, die Körbe mit Karnevalsbrezeln wegzunehmen ebenso die Bretter der Spieler und viel Unanständiges, das die Frauen benutzten, so dass, wenn die Spieler hörten, es kämen die Kinder des Frate, jeder floh. Noch gab es eine Frau, die die Kühnheit hatte, anders als der Sitte gemäß angezogen auszugehen.« [Zwei Tage später durchkämmten die Kinder systematisch die ganze Stadt] »Sie gingen … überall hin, längs der Mauern, in die Tavernen, wo immer sie Ansammlungen bemerkten, und dies taten sie in jedem Viertel, und wer sich gegen sie aufgelehnt hätte, wäre in Lebensgefahr gewesen, es mochte sein wer auch immer.«7
Man muss keinerlei prophetische oder geschichtsphilosophischen Gaben besitzen, um gewisse Parallelen zur Gegenwart zu entdecken. Ganz offenkundig ist auch das gegenwärtige Zeitalter in einen Zustand des Interregnums eingetreten, bei dem das Alte nicht stirbt, das Neue nicht geboren wird. Und da auch das zeitgemäße Establishment einer Heiligen der letzten Tage bedarf, ist der Infantilisierung der Boden bereitet – findet das überragendes Bedürfnis nach Umkehr und moralischer Reinigung in der Gestalt eines Kindes zur Form. Kindermund tut Wahrheit kund, wie der Volksmund doch weiß. Davon befreit, sich mit den Komplexität der digitalen Welt auseinanderzusetzen, kann sich die Leichtgläubigkeit als Tugend verkleiden: Follow the Science! Dass mit der letzten Generation die Kindersoldaten sich in Stellung gebracht haben, darüber hinaus Sprachpolizisten zur Überwachung der aktuellen Reinheitsgebote bestallt sind, weist die erschöpfte Moderne, strukturell betrachtet, als eine unheimliche Wiedergängerin der Renaissance auf. Man darf nicht vergessen, dass die Dinge, die wir dem finsteren Mittelalter zurechnen (Inquisition, Folter, Hexenverfolgung), Ausgeburten nicht des Mittelalters, sondern genau dieser Übergangszeit sind: Es ist eben kein Zufall, dass Botticellis Geburt der Venus im gleichen Jahr gemalt wurde, als Heinrich Kramer seinen Malleus maleficarum, seinen Hexenhammer herausbrachte. Wie hat Horkheimer gesagt?
Der Feind muss (möglichst unter Qualen) ausgelöscht werden, wird doch der Sinn der eigenen Existenz (die Wollust des erotischen Ressentiments) in jedem Augenblick durch die seine in Frage gestellt.
Was gibt es Schrecklicheres für einen Propheten, als dass der vorausgesagte Weltuntergang nicht eintreten wird?
Max Horkheimer, »Egoismus und Freiheitsbewegung“, in: Kritische Theorie II, Frankfurt/M. 1968, S. 27.
Ebenda, S. 70.
Man könnte sagte, dass das erotische Debakel sich gleichsam systematisiert – und zum Kampf gegen die Hure Babylon wird (als die Girolamo später die katholische Kirche bezeichnet. Es ist in diesem Kontext durchaus bemerkenswert, dass der Tagebuchschreiber Luca Landucci immer betont, in welchem Maße Savonarola auf einer striken Geschlechtertrennung beharrt hat.
Will man sich die Schizophrenie der Zeit vergegenwärtigen, das zwischen christlichem Glauben und einer neuartigen, diesseitigen Kreditordnung oszillierte, so kann man auf jeder Seite des Tagebuchs von Luca Landucci, von einem Satz zum nächsten, dieses Moment der Spaltung aufzeigen: »Man ging also davon aus, dass die Jungfrau Maria Florenz wirklich helfen wollte, und dass dies ein Beweis dafür war. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das Wunder ausdrücklich geschehen war. Zu dieser Zeit betrug der Preis für Mais 58 Soldi und einige der besten Sorten 3 Lire pro Scheffel.« (113)
Vgl. Ernst Piper, Savonarola, München 2009, S. 87 ff.
Wie rückständig die Leibfeindschaft des Savoraola war, wird deutlich an der fixen Geschlechtertrennung, auf die er bei seinen Prozessionen insistiert hat. Und weil er seinen Kindersoldaten die moralische Verkommenheit der Reichen predigte, waren sie ermächtigt, die Damen der Gesellschaft zurechtzuweisen – auf die gleiche Weise, wie ehedem Kinder von ihren Eltern traktiert wurden: Lernet Ehrbarkeit von den Türkinnen, die sogar ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier verhüllen!
Luca Landucci, A Florentine diary from 1450 to 1516, London/New York 1927, S. 113.