Alfred Adler war wohl der erste der psychoanalytischen Gründerväter, der sich mit jener Störung beschäftigt hat, die er Minderwertigkeitskomplex, resp. Überlegenheitskomplex getauft hat. Im Grunde handelt es sich dabei um zwei Varianten ein- und derselben Störung. Man könnte den Minderwertigkeitskomplex als die introvertierte, den Überlegenheitskomplex als die extrovertierte Ausprägung begreifen. Ergeht sich der erste in einer zerknirschten Weltflucht, so flüchtet sich der andere in den Hochmut und in die Grandiosität hinein. Und dabei wird die Außenwelt in die Verantwortung genommen, dem Betreffenden die fällige Wertschätzung zukommen zu lassen. Was beiden Spielarten gemeinsam ist, ist, dass sie peinlichst allen Demütigungen ausweichen, die aus der Konfrontation mit dem Realitätsprinzip herrühren. In diesem Sinn ließen sich beide Komplexe als Weigerung verstehen, erwachsen zu werden. Dabei ist der Vorzug dieser Verweigerungshaltung leicht erklärt. Auf diese Weise nämlich kann man weiterhin, wie ein Kind, die Außenwelt für das eigene Wohlergehen verantwortlich machen – ist man der Aufgabe enthoben, selbst für das eigene Tun verantwortlich zu zeichnen. Was aber noch wichtiger ist: Wo der Realitätsverweigerungsimpuls dominiert, lässt sich das Phantasma der eigenen Grandiosität aufrechterhalten. Dieses regressive Moment freilich geht mit einem merkwürdigen Verlusterfahrung einher. Oder wie Adler sagt: Das Kind wächst auf, als wenn es sich in Feindesland befände – und hier hat man es kategorisch nicht mit Mitmenschen, sondern mit Gegenmenschen zu tun.
Was Alfred Adler als individualpsychologische Entwicklungsstörung diagnostiziert hat, erscheint wie ein Template für jene gesellschaftliche Fehlentwicklung, die der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt als Coddling of the American Mind beschrieben hat.1 Der Realitätsverweigerungsimpuls, den Alfred Adler in der Psychologie des verwöhnten Kindes ausgemacht hat, wiederholt sich gleichsam in kollektivierter Form. Mag die Verzärtelung des Kindes, dem zugleich und reflexhaft ein Kreavitätsverdacht auferlegt ist, durchweg gutgemeint sein, so wandelt sich dies zu einer Form der Wohlstandsverwahrlosung, dort jedenfalls, wo dem Kind der Gang ins Erwachsenenleben verstellt wird. Damit aber formiert sich eine Gesellschaft, die Wunschbilder an die Stelle der Realitäten setzt. Und wo der Wunsch zum Vater des Gedankens wird, wird er zur Mutter der Sinnestäuschung, richtet man es sich in einer Märchenwelt ein, wo das Wünschen noch geholfen hat. Man könnte an dieser Stelle nahtlos von der Individual- zur Sozialpsychologie übergehen, freilich ginge man damit an einer entscheidenden Frage vorbei – jener abgründigen Frage nämlich, wie es überhaupt möglich ist, dass eine ganze Gesellschaft sich in eine solch delusionäre Situation hineinbegeben kann. An dieser Stelle mag Adlers Beobachtung hilfreich sein, wonach das Charakteristikum des Komplexes auf einem Realitätsverweigerungsimpuls beruht – so hilfreich wie meine Grundannahme, dass das, was wir Realität nennen, wesentlich von dem je vorherrschenden geistigen Betriebssystem abhängt. Und da dieses eine Reihe von dunklen Flecken aufweist, bin ich vor geraumer Zeit dazu übergegangen, hier von einem Psychotop und einem gesellschaftlichen Unbewussten zu reden. Nun laboriert, wie die Rede von den digital natives nahelegt, unsere Zeit daran, dass sie das mechanische Weltbild hinter sich lassen und in eine digitale Ordnung übergehen muss. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieser Erziehungsauftrag tatsächlich geleistet worden ist – oder ob die elterliche Fürsorge just deswegen in die Verzärtelung übergegangen ist, weil man sich dieser Aufgabe versagt hat. Der Grund dafür ist einfach beschrieben: Weil dieser Übergang mit einer Serie von Zumutungen einhergeht, macht sich die neue Welt als Quell narzisstischer Demütigungen bemerkbar. Sich davon einen Begriff zu machen, fällt nicht schwer: Wenn die Universität Prag beispielsweise die Bachelorarbeit abschafft, weil nicht mehr auszumachen ist, ob die Arbeit vom jeweiligen Studenten oder von ChatGPT geschrieben worden ist, so zeigt dieser ins Kategorische übersetze Plagiatsverdacht, dass die mit Aplomb in Gang gesetzte Pisa-Reform des europäischen Bildungssystems eine Fehlgeburt gewesen ist – ja, dass man es mit einer tiefen Wertekrise zu tun hat. Und diese Wertekrise fällt umso tiefer aus, als selbst die Architekten der Reform dies nicht nur nicht in Betracht haben ziehen wollen, sondern fleißig an der Herabsetzung der Bildungsstandards gearbeitet haben – was a posteriori den Eindruck erwecken mag, als hätte man damit der Apotheose von ChatGPT zuarbeiten wollen. Tatsächlich macht der rasante Aufstieg des Machine Learning sichtbar, dass die classe politique, aber auch die sogenannten Eliten sich in einem Bullerbü eingerichtet haben, dessen wesentliches Rationale darin besteht, sich um Gotteswillen nicht mit jenen Demütigungen beschäftigen zu müssen, welche die digitale Welt dem Einzelnen bereithält.
Insgeheim weiß jeder, der nur ein paar Zeilen byzantinischen Codes zu entziffern versucht hat, dass man es hier mit einem schmerzhaften Alphabetisierungsexerzitium zu tun hat. Und genau dies ist die schaurige Botschaft, die auch derjenige, der sich dem erfolgreich unterzogen hat, übermitteln muss: Hier beginnt eine andere Welt, und sie fordert Gedankenfiguren ein, die mit dem, was die Tradition hat aufbieten können, nichts mehr gemein haben. Und weil die Botschaften, die aus dieser anderen Welt zu den Zeitgenossen hinüberdringen, kryptisch anmuten, verweist man im bürgerlichen Comment mit Stolz darauf, dass man authentisch, unplugged und realpräsent sei. Damit freilich ist die Antwort darauf, was das verwöhnte Kind Adler’scher Provenienz mit der Wohlstandsverwahrlosung unserer Gegenwart zu tun haben könnte, gegeben – und sie liegt im Realitätsverweigerungsimpuls. Geht man von dieser Prämisse aus, werden bestimmte, höchst rätselhafte Phänomene der Gegenwart sehr viel verständlicher.
Man muss in der Tat nicht weit schauen, um sich davon zu überzeugen. Es ist unübersehbar, dass sich in den letzten Jahren eine sonderbare Form der moralischen Ökonomie ausgebreitet hat, nein, mehr noch, dass sich Figuren der Grandiosität herausgebildet haben, die für das eigene Wohlergehen die ganze Welt in Haftung nehmen. In Reinform zeigt sich dieser Überlegenheitskomplex in Gestalt der Klima-Apokalyptiker, die, in der Regel bar aller Sachkenntnisse, vor allem als Warner und Untergangspropheten in Erscheinung treten. Dabei ist die Verbindung mit der Erdmutter Gaia nicht nur eine heilige, sondern vor allem höchst praktische: Denn die Natur widerspricht nicht. Und weil dies so ist, mag sich der Sprecher als Souffleur dieser Gottheit gebärden, kann man die Zeitgenossen daran erinnern, dass man ihr (als Spenderin allen Lebens) tributpflichtig ist. Was der Gaia-Kult großzügig übersieht, ist der Umstand, dass das zivilisatorische Gebäude auf der mechane ruht, also dem Betrug an der Natur – und dass all die Werkzeuge, die zur Verkündigung dieser Botschaft dienen, sich dem Netz, also der digitalen Infrastruktur verdanken. Hat man dies im Blick, ist leicht ersichtlich, dass und warum man die Erdmutter zur großen Gegenfigur aufgebaut hat. Unter ihrem Schutz stehend mag man sich (wie ehedem die Propheten der Apokalypse) in ein Unanfechtbarkeitsgewand gehüllt wähnen, hat man sich hier jener der Zumutungen entledigt, die dem digital native auferlegt wären. Erinnert man sich an die Beschreibung Adlers, dass das Kind aufwächst, als wenn es sich in Feindesland befände, so kann man dies gleichsam als Psychogramm des Klimaapokalyptikers nehmen. Denn dieser lebt in einer Welt der Fossile, in der die Menschen, und zwar aus durchweg niederen Beweggründen, sich der Vergiftung der Erde hingeben. Die Gleichung Tod oder Leben, wie sie beispielsweise Roger Hallam, der Gründer von Extinction Rebellion ausgegeben hat, kennt keine Grautöne, keine Abstufungen, keinen Rationalitätsgewinn mehr.
Wir haben die Wahl: Entweder wir geben uns dem Tod hin, oder wir rebellieren, um die politischen Eliten dazu zu bringen, unser aller Überlebenschancen zu maximieren.
Man hat es hier mit einer Selbstermächtigungsformel zu tun, deren Ziel nicht in der Lösung eines komplexen (im übrigen unbestrittenen) Problems liegt, sondern allein dem Grandiositätsgefühl des Protestlers dient.
In diesem Sinn ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Carl Schmitt bei den Klimaapokalpytikern Anklang gefunden hat. Denn:
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (Carl Schmitt).
Von daher ist das Manichäische Programm dieses Denkens – lässt sich auf diese Weise die eigene Überlegenheit konturieren. Nun sind es nicht die Klimapokalpytiker allein, die in den letzten Jahren Diskursmacht erworben haben. Dies gilt ebenso für all die Identitätspolitiker, die vergangenes Unrecht (also beschädigte Identität) zu einer Waffe des Ressentiments umgeformt haben – eine Inversion, die schon deswegen so grandios funktioniert, wie sie auf einer Unterstellung systemischen Unrechts, ja, eines grundverdorbenen, toxischen Systems beruht. Demgegenüber setzt sich derjenige, der sich für die Wiedergutmachung des Übels einsetzt, moralisch auf eine höhere, überlegene Stufe. Was an all diesen Grandiositätsformeln frappiert, ist, dass sich die Diskurse in Höhen hinaufgeschwungen haben, bei denen die Wörter nicht mehr zum Nennwert genommen werden können. Genau diese Abkopplung von der Wirklichkeit aber ließe sich als Transitorium von der politischen hin zur moralischen Ökonomie werten. Und weil man damit das Realitätsprinzip hinter sich lässt, kann man Dinge und Haltungen für sich reklamieren, ohne sie je unter Beweis stellen zu müssen. Oscar Wilde hat diese Störung der moralischen Ökonomie wunderbar beschrieben:
Ein Sentimentalist ist einfach jemand, der den Luxus einer Emotion haben möchte, ohne dafür zu bezahlen. Wir glauben, wir könnten unsere Gefühle umsonst haben. Das können wir nicht. Selbst die schönsten und aufopferungsvollsten Gefühle müssen bezahlt werden. (…) So wie sie [die Menschen] sich ihre Ideen aus einer Art Umlaufbibliothek des Denkens ausleihen - dem Zeitgeist eines Zeitalters, das keine Seele hat - und sie am Ende jeder Woche beschmutzt zurückschicken, so versuchen sie immer, ihre Gefühle auf Kredit zu bekommen, und weigern sich, die Rechnung zu bezahlen, wenn sie eintrifft.
Wo alles unter Einkaufspreis zu haben ist, wird das Epistemische vom Bullshit gekapert, die Ästhetik vom Kitsch und die Moral von dem, was man moral grandstanding2 nennt: Tugendprotzerei. In diesem Sinn könnte man von einer Form der psychischen Inflation sprechen. So wie der Gresham’schen Logik folgend, das gute Geld vom schlechten verdrängt wird, wird das Schöne, Wahre und Gute durch seine Simulationen ersetzt, ja, mögen sich ihrer geradezu inverse Tendenzen bemächtigen. Wenn der Schlachtruf follow the Science unmittelbar übergeht in die Verfemung der Leugner und Apostaten, hat man das Ethos der Wissenschaft längst hinter sich gelassen, bedient man sich seiner wie die Inquisitoren des Mittelalters.
Die größte Frage in diesem Kontext ist gewiss, wie ehedem hochmögende Institutionen sich diesen Grandiositätsformeln haben anschließen können, ja, wie es möglich war, dass all diese aufgeblasenen Formeln zum Nennwert genommen worden sind. Denn nur aufgrund dieser Annahme hat sich die psychische Inflation so ausbreiten können. Hält man sich vor Augen, dass sich all dies vor dem Hintergrund eines sich verschiebenden mentalen Betriebssystems ereignet hat, ist dieser Umstand sehr viel begreiflicher. Stellen wir uns eine Institution vor, sagen wir: die Royal Society, über die urplötzlich ein Shirtstorm hereingebrochen ist, weil, wie im Falle des Sir Tim Hunt geschehen, eines ihrer Mitglieder sich bei einem Symposion in Seoul vermeintlich sexistisch geäußert hat.3 Erschreckt von der Heftigkeit dieser Reaktion, gehen die Institutsmitglieder selbstverständlich von der Richtigkeit dieser Anwürfe aus – und so ist das bedauernswerte Opfers, noch bevor sein Flugzeug englischen Boden erreicht hat, über Nacht zu einer Unperson geworden – ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man ihn all seiner Ämter enthebt. Weil die Vorwürfe nicht nur auf Twitter zirkulieren, sondern auf ein großes Medienecho treffen, spielt der Umstand, dass die Anwürfe durchweg haltlos sind, keine Rolle mehr. - Analysiert man die Reaktion der Institution, so sticht vor allem der mediale Analphabetismus hervor, das Unvermögen, derlei Anwürfe als das einzuordnen, was sie sind: Formen des Ressentiments, bei denen ein Twittermob sich auf einen wehrlosen Einzelnen stürzt, dessen Skalp – da es sich doch um einen Nobelpreisträger handelt – den Beteiligten einen symbolischen Mehrwert verspricht. Mag man selbst nichts Nennenswertes in die Welt gesetzt haben, so hat man es doch fertiggebracht, eine Institution zu schleifen. Es ist dieses Muster, das sich in der moralischen Ökonomie wieder und wieder wiederholt, mag es sich nun um die Schleifung eines Monuments oder um die Attacke auf ein vergangenes Meisterwerk handeln. Weil in der Aufmerksamkeitsökonomie das Skandalon eine Form des monetarisierbaren Mehrwerts darstellt, können derlei Grandiositätsformeln die Oberhand gewinnen, entsteht so etwas wie eine psychische Ökonomie, bei der es höchst rational ist, wenn sich eine Institution den entsprechenden Anstrich verpasst. Folglich lässt der Zahnpastahersteller die lived experience aller erdenklichen Minderheiten für sich sprechen, erklären sich Hedgefonds, gendersensibilisiert, zu den Gralshütern von Diversität, Gleichheit und Inklusivität, werden Hochschulen nicht bloß zu safe spaces umfunktioniert, sondern stellen sich gar in den Dienst von Lehren, die ihrem Ethos diametral entgegengesetzt sind. Das Fatale an dieser psychischen Ökonomie ist, dass auf diese Weise die Störung zum Realitätsprinzip wird – solange jedenfalls, als man die dahinterstehende psychische Inflation nicht zu entziffern vermag.
An dieser Stelle können Alfred Adlers Betrachtungen, auch wenn sie individualpsychologisch verkürzt sind, durchaus erhellend sein. Was er klar macht, ist, dass der Überlegenheitskomplex letztlich auf ein antisoziales Verhalten hinausläuft. Dieser progrediente Verlust an Gemeinsinn ist vielleicht die Signatur des vergangenen Jahrzehnts. Denn wenn Menschen, anstatt sich auf die Benevolenz ihrer Mitmenschen verlassen zu können, das Gefühl hegen, sich im Feindesland zu bewegen, so ist dies ein Beleg dafür, dass die Diskurse, je nachdem, an Minderwertigkeits- und Überlegenheitskomplexen laborieren – und dies wiederum lässt auf ein gestörtes Verhältnis zur Realität schließen. Aber wenn die psychische Inflation ihrerseits zum Realitätsprinzip wird, steht zu befürchten, dass fortan ein jeder den anderen nicht als Mit-, sondern als Gegenmenschen betrachtet - was eine individualpsychologische Beschreibung dessen ist, was mit dem molekularen Bürgerkrieg gemeint ist.
Dieser Aufsatz, gemeinsam mit Greg Lukianoff verfasst, erschient zunächst im Alantic – und wurde später zu einer Buchpublikation. The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas Are Setting Up a Generation for Failure. Penguin, 2019.
Vgl. hierzu: Justin Tosi / Brandon Warmke: »Moral Grandstanding«. In: Philosophy & Public Affairs 44(3), Juni 2016. S. 197-21.
Ich habe diesem Fall einen längeren Essay gewidmet. Vgl.: Im Netz der kleinen Brüder. Über die Modernität der Populismen. In: Merkur, Bd. 806, Juni 2016.