Es mag befremdlich sein, Gestalten gegenüberzustehen, die von einer fremden Instanz gesteuert werden – und mag dies auch die vertraute, eigene Stimme sein. Versetzt man sich in Gedanken ein paar Jahrhunderte zurück, kann man sich vorstellen, dass die Empfindungen der Menschen, die der hyperrealistischen Renaissanceportraits ansichtig wurden, kaum anders gewesen sein mögen – wird man in ihnen etwas durchaus Unheimliches erblickt haben.1 Dieses Unheimliche wird zu einer manifesten Drohung dort, wo der digitale Schatten bis dato für menschlich gehaltene Tätigkeiten zu übernehmen vermag. Schaut man sich die obige Figur an, kann man sich ausmalen, dass eine Reihe von Arbeiten, die heute von menschlichen Dienstleistern erledigt werden, von animierten, lebensähnlichen Bots ausgeführt werden. Tatsächlich ist die Sachlage noch ein bisschen verzwickter. Denn es geht hier nicht allein um die Substitution des Menschen durch eine Maschine. So bietet die Firma D-ID, auf welche der obige Bots zurückgeht, in ihrem Produktangebot an, dass man auch das eigene Gesicht (den eigenen Körper) zum Avatar wandeln könne, und dies mit dem schnittigen Slogan: Animate Any Face, Anytime, Anywhere - Right from Your Phone. Spielt man die Möglichkeiten durch, die auf die eine oder andere Art und Weise sich in Realitäten verwandeln werden, insbesondere dort, wo der ökonomische Druck dazu einlädt, liegen die Applikationen auf der Hand. Mir jedenfalls erscheint es nachgerade eine ökonomische Zwangsläufigkeit, dass die talking heads unserer Medienwelt nicht mehr Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Computerfiguren sein werden, Avatare, die von einer menschlichen Stimme gesteuert werden. Weil die Stimme, als das entscheidende Steuerungsinstrument, der Rede Gestalt und Emphase verleiht, sie zudem mit den entsprechenden Untertönen und Konnotationen versieht, ist das Wahrscheinlichste, dass man dem eigenen Avatar die eigene Stimme mitgibt – und dies wiederum erzeugt ein merkwürdiges Zwitterwesen: meine Stimme, die ein Double meiner selbst triggert. Schon dies ist ein Beleg dafür, dass die Dichotomie von Mensch und Maschine eine falsche Alternative ist, die an der wirklichen Herausforderung vorübergeht. Tatsächlich ließe sich jeder, der seinen Tag von seinem Smartphone dirigieren lässt, als kybernetisch augmentierter Organismus, vulgo: als Cyborg auffassen.2 Dass diese Frage in den letzten Dekaden nicht gestellt – und folglich auch nicht beantwortet - worden ist, stellt die große Unterlassungssünde der postmodernen Gesellschaft dar. Ärger noch: im Zuge des Neoliberalismus und seiner Obsession mit dem Qualitätsmanagement hat man sich angewöhnt, die Menschen mit Perfektionsvorstellungen zu konfrontieren, die letztlich auf ein androides, maschinenähnliches Verhalten hinauslaufen. Man muss nicht weit schauen, um sich davon zu überzeugen. Ein Anruf bei einer beliebigen Kunden-Hotline reicht aus (weswegen ich mich nicht selten bei der Versuchung erwischt habe, den Callcenter-Mitarbeiter zu fragen, ob es ich jetzt wirklich mit einem leibhaftigen Menschen oder nicht vielmehr mit einem Androiden rede). Jetzt, da die Androiden sich weiterentwickelt, ja nachgerade emanzipiert haben, gilt es für diese Unterlassungssünde einen Preis zu entrichten. Denn wenn die übliche Kundenberatung sich nur unwesentlich von ihrer digitalen Schrumpfform unterscheidet, liegt die Freisetzung des Menschen (und das Ende der Dienstleistungsgesellschaft) nicht fern. Dieses Resultat ist Ausdruck einer strukturellen Ungleichheit. Denn in einer Hinsicht ist der Mensch seinem Double hoffnungslos unterlegen. Im Gegensatz zum Menschen, der unter Zeitstress und Mehrfachbelastung leidet, ist der Bot unaufhörlich einsatzbereit, 24/7, und weil er sich zudem beliebig zu proliferieren vermag, kann er dem Kunden seine volle Aufmerksamkeit widmen. Dieser Vorteil macht sich schon jetzt, da die Bots nur in Schriftform tätig sind (und ihrer Avatar-Inkarnation harren), bemerkbar. So ergab eine Befragung amerikanischer Patienten, dass selbige die Beratung durch einen Bot der Konsultation eines wirklichen Arztes vorzogen. Vergegenwärtigt man sich, dass der virtuelle Arzt, in ein wohlgestaltetes Äußeres gehüllt, in ein paar Jahren in Echtzeit agieren kann, dem Patienten darüberhinaus bestimmte Handgriffe praktisch vorführen kann (vergleichbar den Erklärvideos auf YouTube), mag man sich ausmalen, dass die von einem menschlichen Arzt besorgte Dienstleistung noch weiter in der Gunst und Wertschätzung der Patienten zurückfallen wird. Hier kommt eine Asymmetrie ins Spiel, die, historisch betrachtet, die Argumentation widerspiegelt, welche die mittelalterlichen Scholasten gegen den Zins erhoben. Nicht bloß, dass sie das Aristotelische Argument des Zeichen-Sterilität vorbrachte (denn es sei pervers und naturwidrig, dass ein steriles Zeichen aus sich selbst Nachwuchs gebäre), bestand der Haupteinwand darin, dass der Zins, anders als der Mensch, nicht schlafe, sondern ununterbrochen und ruhelos weiter Zins heckte – und weil er sich damit am göttlichen Ruhetag, dem heiligen Sonntag versündige, müsse man ihn als Zeitdieb auffassen. Hat sich diese Argumentation, in Gestalt der Parkuhren, die uns am Sonntag mit ihrer Gefräßigkeit verschonen, bis in unsere Tage erhalten, so könnte man die Avatare als eine Form des beleibten Kapitals auffassen. Umgekehrt gölte der menschliche Faktor nicht mehr als Aktiv-, sondern als Passivposten – als eine Belastung der Bilanz, der man sich so schnell als möglich entledigen muss.
Wenn die digitalen Gespenster eine Botschaft vermitteln, so dass man den Raum des Menschlichen neu vermessen muss. Haben die Ökonomen die Gesellschaft in ein Trivium aufgeteilt (einen Agrar-, einen Industrie- und einen Dienstleistungssektor), so macht die digitale Revolution schonungslos klar, dass auch dieser letztere in seinem Bestand gefährdet ist. Dass ein Großteil der Beschäftigten in diesem Sektor tätig ist (in Deutschland des Jahres 2022 gut 64 %), zeigt nur, wie wenig vorbereitet die postmoderne Gesellschaft für die kommenden Herausforderungen ist. Denn Mehrwert wird nur dort entstehen, wo die menschliche Arbeit ihre menschlichen Qualitäten ausspielen kann. Aber da dieser Raum noch weitgehend unbeleuchtet ist, werden die digitalen Rationalisierungsmaßnahmen mit ganzer Wucht zuschlagen – wird man schreckhaft gewahren, dass der Dienstleistungssektor nur ein Wegbereiter der Androiden war.
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