Von Nietzsche stammt die schöne Bemerkung: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, — aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« Mag diese Einschätzung unmittelbar einleuchten, so bringt sie andererseits eine große Gedankenverlegenheit mit sich: Denn wenn der Irrsinn zu einer Massenerscheinung wird, ist er als solcher nicht mehr lesbar. Ärger noch: Insofern er sich als ökonomisches Rationale zu tarnen vermag, kann er zu einer bestimmten Zeit nachgerade als Inbegriff des Realitätsprinzips scheinen, in einem solchen Maße, dass auch Menschen, die sich einen gesunden Skeptizismus bewahrt haben, bei diesem Irrsinns-Gesellschaftsspiel mittun. Mögen die Nullerjahre, welche mit aller Macht auf die große Finanzkrise zustürmten, ein schönes Beispiel davon abgeben, lassen auch viele Tendenzen der Gegenwart delusionäre Züge erkennen – mit dem Unterschied bloß, dass man sich derzeit nicht mehr in irgendwelche Finanzblasen versteigt, sondern in eine Form der Moralität, die sich, je nachdem, als Apokalyptik, Luxusglaube oder Tugendprotzerei artikuliert. Und weil der zur Schau gestellte Edelmut sich in klingende Münze umrubeln lässt, sind auch die global player mit von der Partie, kann man mit einigem Erstaunen beobachten, dass sich auch Firmen wie JP Morgan ihrer Diversitätsanstrengungen – und mithin: ihrer moralischen Superiorität – rühmen. Zweifellos führt der Umstand, dass die politische Ökonomie einer moralischen Ökonomie Platz gemacht hat, zu einer allgemeinen Herzenserwärmung – und dies hat den unschätzbaren Vorteil, dass man sich fortan nicht mehr niedere Beweggründe wie Gier oder Profitmacherei nachsagen lassen muss. Und ganz nebenbei wird auch die Monetarisierung damit zum Epiphänomen: Denn mit dem Streben nach Höherem erreichen auch Akzeptanz und Followerzahl schwindelerregende Höhen. Indem die Blase immer größere Bevölkerungsgruppen erfasst, produziert sie, was C.G. Jung treffend eine psychische Inflation genannt hat – und der vorpsychoanalytische Nietzsche ›Irrsinn‹. Nun kommt hier eine karnevaleske, zutiefst egalitäre Seite zum Tragen. Denn die moralische Empörung ist, wie Marshall McLuhan bemerkt hat, eine grundlegende Technik, um auch einem Idioten Würde zu verleihen«.1 Ist damit das gesellschaftliche Entréebillet auf ein Allzeittief gesunken, ist der Positionsvorteil, den der Einzelne damit erringt, nicht zu unterschätzen. Denn hat man sich einmal ins moralische Korsett gezwängt, ist man schlechterdings unangreifbar geworden. Erhebt sich dennoch Kritik, so lässt sich dies nur als ad hominem-Attacke werten. Und weil man, statt den Schmäh auf Wiener Art beantworten zu müssen (Gar nicht erst ignorieren!), im Besitz technischer Hilfsmittel ist, bedarf es nur eines einzigen Klicks: Geblockt! Womit wir ganz unter uns wären ….
Aber lassen wir uns von den Verstiegenheiten der Gegenwart nicht abschrecken und versuchen stattdessen, die Strukturmerkmale des kollektiven Phantasmas herauszuarbeiten. Don Quixote bietet hier insofern ein gutes Modell, als man den Ritter von der traurigen Gestalt nicht bloß als individuelle Abweichung lesen kann, sondern als das Porträt einer ganzen Epoche. Don Quixote ist die Verkörperung des späten Mittelalters, welches, zutiefst in die romantischen Narrative der Rittertums verstrickt, gegen Windmühlen anzurennen begann. Dass dieses Erzählungsbruchstück zum geflügelten Wort und zur Metapher äußerster Sinnlosigkeit hat werden können, hat damit zu tun, dass jeder Versuch, sich jener übermächtigen Ordnung zu entziehen, zum Scheitern verdammt ist. Warum? Weil man es hier mit einem Gesellschaftstriebwerk zu schaffen hat, dem Räderwerkautomaten, dessen erste Ausformung die Windmühle ist. Wenn die Leser des Don Quixote sich darüber belustigen konnten, so deswegen, weil der offenkundige Wahnsinn des Helden das überzeichnete Porträt seiner Zeitgenossen darstellt, all jener Menschen, die sich von einem überkommenen Weltbild nicht zu lösen vermochten. Liest man den Don Quixote unter diesem Gesichtspunkt, ist evident, dass man es hier mit einer Strukturähnlichkeit zu tun hat. Nicht zufällig mutet der Aktivismus vieler Zeitgenossen wie der Versuch an, gegen die Windmühlen unserer Zeit anzurennen, mag es sich nun um die Nukleartechnik oder das digitale Betriebssystem handeln. Vieles, was sich als progressiv wähnt und dementsprechend gebärdet, erweist sich, von nahem betrachtet, als eine zutiefst regressive Bewegung – als könne man in den Schoß der Gaia zurück, in jenen Naturzustand mithin, da Wind und Sonne noch keine Rechnungen schickten. Nehmen wir die große Debatte, die sich an der Trans-Frage entzündet und in Gestalt des Selbstbestimmungsgesetzes Gesetzesform angenommen hat. Jeder Mensch, der einmal vor einem Computerspiel gesessen hat und bei der Wahl seines Avatars hat erleben können, dass man diesen mit beliebigen Superkräften ausrüsten, ihm zudem ein Geschlecht der Wahl verpassen kann, wird begreifen, dass die Gesellschaft hier mit einer neuen Gedankenfreiheit konfrontiert ist – dem, was wir gemeinhin Virtualität nennen. Man könnte diese Freiheit, die dem Nutzer nie-dagewesene Genüsse und Möglichkeiten verspricht, als ein Begehren ganz neuer Art begreifen, eine Form der digitalen Transphilie, wenn man so will. Hat man einen solcherart liquide gewordenen Identitätsbegriff vor Augen, ist es nicht weiter weiter verwunderlich, dass man davon träumt, die Grenzen des biologisch Gegebenen hinter sich zu lassen. Andererseits ist der Umstand, dass man den virtuellen Raum essentialistisch in ein neues Selbstgefühl, ja, eine distinkte Identität zurück übersetzt, ein befremdlicher Kurzschluss, der an die Entscheidung des spanischen Edelmannes gemahnt, sich nach der Lektüre zahlloser Ritterromane nun endlich selber zum Ritter zu küren. Mehr noch: Wenn die Computerleihgabe in eine eifernde Form der Identitätspolitik hat übergehen können, bei dem die vermeintlichen Progressiven den Rest der Welt als transphob, ja, als menschenfeindlich geißeln, so kündet dieser eifernde Manichäismus von längst vergessenen Zeiten, ja, mag den Eindruck hegen, als ob die vermeintlich Progressiven mit aller Macht in ein dunkles Zeitalter zurück stürmten. Folglich hat man es mit Glaubenskriegern zu tun, welche sich den Zumutungen der Gegenwart dadurch entziehen, dass sie die Schlachten der Vergangenheit reinszenieren. Hier kommt eine Dialektik ins Spiel, die der Fortschrittsglaube stets übersehen hat. Wenn Victor Hugo behauptet hat, dass es nichts Mächtigeres gebe als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, so wäre dieser Gedanke dahingehend zu korrigieren, dass es nichts Mächtigeres gibt als eine Idee, deren Zeit vorüber ist. Warum? Weil das Weltbild von gestern, auratisch überglänzt, eine solche Form der Selbstevidenz angenommen hat, dass allein der Gedanke seiner Historizität ein Unding darstellt (wunderbar exemplifiziert an dem Bonmot, dass es einfacher ist, das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus zu denken). Ein weiterer Vorteil kommt noch hinzu: Denn hat sich ein solches Weltbild einmal von der täglichen Praxis gelöst, gewinnt es auf magische Weise seine ideale Schlagkraft zurück. Nicht bloß, dass man sich auf diese Weise in den Besitz eines perfekten Strategems gebracht hat, mit dessen Hilfe man sich die Zumutungen der Gegenwart vom Leib halten kann (»Great again!«), darüber hinaus mag sich derjenige, der sich in dieses Vintage-Kostüm hüllt, wie ein Heros vergangener Zeiten fühlen – und dies, ohne sich irgendwelchen komplizierten Exerzitien unterziehen zu müssen. Dem Gratismut gesellt sich also schnell das Phantasma individueller Größe und Erwähltheit hinzu. Diese Second Hand-Logik ist die Dynamik, welche den Quixotismus kennzeichnet. Eine komplizierte Welt wird in ein narratives Schema gepresst, bei dem sich alles in altbekannte Muster einordnet. Wie in einem Groschenheft, hat man hat es mit den üblichen Verdächtigen, den immergleichen Herausforderung und den immergleichen Lösungen zu tun. Und weil eine solche Weltbildmaschine einfach zu erlernen ist und, über Jahrhunderte erprobt, wie geschmiert läuft, kann die Phantasie die Weltwahrnehmung außer Kraft setzen. Oder genauer: sie kann jene phantastischen Übermalungen bewirken, welche der Geschichte des Don Quixote ihre Komik verleihen. Im Weltbild des terrible simplificateur sind derlei Übermalungen die Regel, ein psychischer Zwangsmechanismus geradezu. Folglich verwandeln sich vorüberziehende Kaufleute zu niederträchtigen Rittern, Schafherden zu feindlichen Heeren und Windmühlen zu Riesen, gegen die man zu Feld ziehen muss. So wird alles, was Gegenwart ist, als casus belli erlebt. Und dies ist die vielleicht hervorstechendste Signatur des Don Quixote, nämlich, dass er unverdrossen gegen all das anstürmt, was seinem ritterlichen Gemüt (oder was er dafür hält) widerstrebt. In diesem Sinne kann man in ihm nachgerade das Idealbild eines Aktivisten erkennen, der sich, ohne vom Schatten eines Zweifels heimgesucht zu werden, auf der richtigen Seite der Geschichte weiß. Geschieht es, dass er im Kampf gegen eine Übermacht heftige Prügel einstecken muss, tröstet er sich damit, dass er gegen Menschen angerannt ist, die anders als er nicht zum Ritter geschlagen worden, folglich nicht satisfaktionsfähig sind.2 Streift sein Selbstbewusstsein die Grenze der Erwähltheit, ja, eines Erlöserkomplexes, bleibt das Paradoxon, dass alles, was er über das Rittertum weiß, nichts weiter als eine Lektürefrucht ist. Folglich ist ihm selbst die Prozedur des Ritterschlags ein Enigma, ist es allein der Ungeduld des heruntergekommenen Schankwirts zu verdanken, dass sich dieser der lästigen Pflicht mit einem beherzten Schlag entledigt.
Die entscheidende Frage aber bleibt: Was ist das Charakteristikum dieses Wahnsystems? An welcher Fehlbildung entzündet sich der Quixotismus? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass all das, was wir mit Leon Festinger ›kognitive Dissonanz‹ zu nennen uns angewöhnt haben – und worunter jene nachgereichte Erklärung zu verstehen ist, mit der der Betreffende die Dissonanz zu übertönen versucht -, auf einen Realitätsverlust hinweist, bei dem eine als unheimlich, ja als unlesbar erlebte Wirklichkeit eine ideale Übermalung erfährt, und zwar dergestalt, dass sie sich bruchlos in ein vorgegebenes Narrativ einordnen lässt. Dabei ist der vorzügliche Sinn dieses Framing, dass das Rollenverständnis und Glaubenssystem des Protagonisten nicht angetastet wird. Hier mag eine Szene Aufschluss geben, die im 2. Teil des Buches auftaucht. Da tritt, gemeinsam mit seinem zukunftsweisenden Affen, der Puppenspieler Pedro in jener Absteige auf, in der auch Don Quixote und Sancho Pansa nächtigen. Nachdem Don Quixote, höchst skeptisch, die divinatorischen Fähigkeiten des Affen beäugt, das Puppentheater jedoch bewundert hat, beginnt das Spiel. Als jedoch der Puppenspieler den Ort der Handlung beschreibt, die Stadt Saragossa, die von den Mauren eingenommen worden ist, begeht er einen, für Don Quixote, ganz unverzeihlichen Fehler. Denn er spricht davon, dass die ganze Stadt im Geläute der Glocken versinkt, die auf allen Türmen der Moscheen erschallen - und weil dies nicht der Realität entspricht, fällt ihm Don Quioxte ins Wort und berichtigt ihn: Bei den Mauren gebe es keine Glocken, sondern nur Pauken und eine Art von Holzflöten, in jedem Falle sei das Glockenläuten in Sansueña eine große Verkehrtheit. Mag diese Intervention auf einen besonderen Realitätssinn verweisen, passiert wenig später etwas sehr Sonderbares. Denn als im Puppenspiel die Mauren das geflüchtete Heldenpaar verfolgen, kann Don Quixote nicht mehr an sich halten, sondern greift nun selbst – nicht mehr mit Worten, sondern handgreiflich - ins Geschehen ein:
Als nun Don Quijote so viel Mohrenvolk sah und so viel brausenden Lärm hörte, bedünkte es ihn wohlgetan, dem fliehenden Paar Hilfe zu gewähren; er stand auf und rief mit mächtiger Stimme: »Nie würde ich gestatten, dass während meiner Lebenstage und in meiner Gegenwart einem so ruhmvollen Ritter und so kühnen Liebeshelden wie Don Gaiféros so von der Übermacht mitgespielt werde. Haltet an, gemeines Gesindel, keinen Schritt weiter, sonst seid ihr in Fehde mit mir!«
Weil aber die Puppen nicht von ihrem Puppenspiel lassen, tritt nun der Held – »ein Mann, ein Wort«, wie es im Text heißt – in Aktion und zerstört, unter argem Hilfegeschrei des Puppenspielers, das ganze Puppentheater:
Aber Don Quijote ließ darum nicht ab und wiederholte seine Hiebe, doppelhändige Schwertschläge, Quarten und Terzen, als ob sie geregnet kämen. In einem Wort, in kürzerer Zeit, als man zwei Kredos betet, hatte er das ganze Puppentheater zu Boden geschlagen, die ganze Maschinerie und alle Puppen kurz und klein gehauen, den König Marsilius schwer verwundet und Kaiser Karl dem Großen Krone und Kopf in zwei Stücke zerspalten.
Hier kommen wir zu einem entscheidenden Punkt des Quixotismus: dem Unvermögen nämlich, ein Symbol als ein solches zu lesen. Genau diese symbolische Ataraxie kennzeichnet jene Gedankenfigur, die man als ›sozialen Konstruktivismus‹ bezeichnet. Da behauptet man schlechterdings, dass jegliches Selbstverständnis (Rasse, Geschlecht, Identität) nichts weiter als eine soziale Zuschreibung ist. Nun lässt sich aus dieser Aussage im Umkehrschluss ableiten, dass man sich über einen Sprechakt eine beliebige Identität aneignen kann. Damit aber wandelt sich, was zuvor eine Form der Relativierung dargestellt hat, auf paradoxe Weise in eine Selbstermächtigungsgeste. Denn fortan wird der Betreffende nicht bloß eine so-oder-so-geartete Identität für sich reklamieren, sondern darüber hinaus die Einzigartigkeit dieser seiner Identität herausstellen – und jedem anderen, der diese nicht teilt, die Exklusivität seines frisch erworbenen Identitätsprivilegs mitteilen. Rufen wir uns hier die Selbstermächtigungsgeste des Don Quixote ins Gedächtnis, so ist die Parallele frappierend. Denn wenn sich sein Rittertum allein der Lektüre verdankt (und der Ritterschlag selbst ein Enigma bleibt), hat man es mit einem Größen-Phantasma, ja, einer Anmaßung zu tun, die, weil sie nicht in sich selber ruht, sich beständig herausgefordert fühlt. Folglich geht Don Quixote, bereits von der Spielhandlung eines Puppentheaters in seiner Ehre verletzt, zum Angriff über („Ein Mann, ein Wort“). So fragil ist diese Second-Hand-Identität, dass bereit die Symbole als Verletzungen, ja als gewalttätige Drohung erlebt werden. Nicht zufällig weist der soziale Konstruktivismus, der zur Selbstermächtigung schreitet, eine ähnliche Empfindlichkeit auf – eine Idiosynkrasie, die sich allüberall Mikroaggressionen ausgesetzt sieht und noch das Schweigen zum Gewaltakt hochjazzt. Folglich schickt man sich an, zuallererst die Sprache von allem zu säubern, was man für eine Verunreinigung hält. Und wagt es fortan irgendjemand, sich dieser sprachpolizeilichen Überwachung zum Trotz, auf ungebührliche Weise zu äußern, zögert man keine Sekunde und zieht in die Schlacht – nur dass dieses Getümmel (auf Twitter, X, Facebook oder wo immer) die Form eines digitalen Puppenspiels besitzt.
Was das Besondere der identitären Selbstermächtigung ausmacht, ist, dass sie in einigen Ländern Gesetzeskraft hat annehmen können. Und genau hier liegt der Umschlag, der den Quixotismus zu einer Form des gesellschaftlichen Irrsinns macht. Jedoch ist die Pathologisierung dieses Zustandes sowenig hilfreich wie die nicht enden wollende moralische Empörung darüber. Vielmehr wäre zu fragen, was das Problem ist, das dieser Aberration zugrunde liegt. Wenn Don Quixote zuallererst gegen Windmühlen anrennt, so hat Cervantes die Antwort gegeben: Mit diesem Sturm wehrt man sich gegen jene symbolische Ordnung, die den Heroismus der verflossenen, ach so gülden überglänzten Zeiten beendet. Nun fällt dieser Prozess nicht einmal in die Lebenszeit des Miguel de Cervantes, sondern zeichnet sich bereits im 12., 13. Jahrhundert ab. Schlägt der Räderwerkautomat wie ein Komet ins Zeitalter der Gotik ein, so taucht er die Epoche in eine gleichsam konstitutionelle Schizophrenie. Und damit ist der Keim zu jener Literaturgattung gelegt, die in der Gestalt des Amadis de Gaulle jene Form angenommen hat, die der Ritter von der traurigen Gestalt so eifrig konsumiert. Wenn ich zuvor davon gesprochen habe, dass es nichts Mächtigeres gebe als eine Idee, deren Zeit vorüber ist, so lässt sich dies an der Rezeptionsgeschichte dieser Gattung demonstrieren. Kursierten die Bücher im 14. Jahrhundert lediglich als Handschriften (deren jede das Jahresgehalt eines Handwerkers kostete), wurden sie mit der Gutenbergschen Druckerpresse zu einem Massenprodukt. Dieser Umstand hatte zur Folge (wie Lucien Febvre und Henri-Jean Martin in ihrer L’apparation de livre schreiben), dass das 15. und 16. Jahrhundert mit den Denkfiguren des Mittelalters vertrauter waren, als dieses mit sich selbst. Nicht ganz zufällig wartet Miguel de Cervantes, anlässlich einer Bücherverbrennung in seinem Don Quixote, mit einer minuziösen Zergliederung all der vorausgegangen Ritterromane auf. Hält man sich vor Augen, dass die Vita des Autors in einer maximalen Entfernung zu den Abenteuergeschichten eines Amadis de Gaulle steht, begreift man, dass der Don Quixote (den man als das Urbild des modernen Romans gefeiert hat) vor allem die Dekonstruktion eines sozialen Phantasmas darstellt, ja, dass man den Ritter von der traurigen Gestalt als eine Sammelperson auffassen muss, einen Prototpyen, dessen Abenteuer für ein eigentlich kollektives Schicksal stehen. So betrachtet handelt der Roman des Cervantes nicht vom Wahnsystem eines Individuums, sondern vom Irrsinn der Zeit, die sich mit den Phantomschmerzen eines verlorenen Weltbildes herumschlagen musste. Und um diese zu ertragen zu können, beschwört man die Geister der Vergangenheit herauf. Weil diese das Gewicht der Welt abgestreift und zu handlichen Groschenheftphantasien zusammengeschrumpft sind, kann man sich ihnen umso leichter hingeben. Wenn der Philosoph Hegel, auf die Abgehobenheit seiner Theorie angesprochen, einmal geantwortet haben soll: »Umso schlimmer für die Tatsache«, so entspricht dies der Logik des Quixotismus: Denn das von aller Realität befreite Ideal lässt höchst wirksam gegen eine komplexe, unleserlich gewordene Welt ins Feld führen. Folglich bescheidet Don Quixote Sancho Pansa, der ihn darauf hinweist, dass die vermeintlichen Riesen tatsächlich Windmühlen sind (»und was Euch bei ihnen wie Arme vorkommt, das sind die Flügel, die, vom Winde umgetrieben, den Mühlstein in Bewegung setzen.«), dass er in Sachen der Abenteuer offenkundig unkundig sei. Oder mit anderen Worten: dass es ihm des richtigen Narrativs und Framings ermangele. So wie man sagt, dass einem Menschen, der nur einen Hammer besitzt, jedes Problem zum Nagel wird, erlebt die Realität eine Rekonfiguration, und zwar dergestalt, dass das Unlesbare dem vorherrschenden Narrativ anverwandelt wird. Folglich wandelt sich die energetische Übermacht im Kopf des Helden zu einer Riesengestalt, gegen die man in einen „grimmen und ungleichen Kampf“ eintreten will. Wenn dieser Heroismus nicht überzeugt sein kann, siegreich daraus hervorgehen zu können, so deswegen, weil das Ziel nicht in der Überwindung des Gegners, sondern in der Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes liegt. Was sich hier artikuliert, ist der entschiedene Wille, nein, nicht zur Macht, sondern zur Ohnmacht. Mag dies paradox anmuten, so hat die Flucht in die Selbstviktimisierung durchaus ihre Vorteile – denn sonst würden ihm wohl nicht ganze Heerscharen folgen. Auf diese Weise nämlich bleibt der Zauber des Vertrauten erhalten, muss man sich nicht mit komplizierten Ambiguitäten herumschlagen. Bezogen auf unser Zeitalter könnte man sagen, dass man im Beharren auf eine wie-auch-immer-geartete Identität der Zumutung enthoben ist, sich digital alphabetisieren zu müssen. Project me from what I want.
Damit hat auch der Dummenbonus der DotCom-Blase die entsprechende Veredelung erlebt.
Soviel mich angeht, muß ich sagen«, antwortete der wohlzerdroschene Ritter Don Quijote, »daß ich diesen Tagen eine Frist nicht bestimmen kann. Aber ich trage Schuld an allem, ich durfte nicht zum Schwerte greifen gegen Leute, die nicht wie ich zum Ritter geschlagen sind; und so glaube ich, daß zur Strafe für diese Übertretung der Gesetze des Rittertums der Gott der Schlachten verstattet hat, daß mir diese Züchtigung zuteil geworden. Deshalb, Sancho Pansa, ist es gebührlich, daß du wohl auf das merkest, was ich dir jetzt sagen will; denn es ist hochwichtig für unser beider Wohlfahrt: wenn du nämlich siehst, daß solches Gesindel uns eine Unbill zufügt, so warte nicht ab, daß ich zum Schwert greife, denn das werde ich unter keinerlei Umständen tun, sondern lege du Hand ans Schwert und züchtige sie gehörig nach Herzenslust. Kommen ihnen aber Ritter zu Hilfe und Beistand, so werde ich dich zu verteidigen und sie aus aller Macht zu befehden wissen; denn du wirst schon an tausend Merkzeichen und Proben gesehen haben, wieweit die Gewalt dieses starken Armes reicht.«