Wenn man von Totalitarismus spricht, steht häufig das Bild eines übermächtigen, furchterregenden Staates vor dem inneren Auge: Porträt des Leviathan, als Monster gezeichnet! Von Franz Neumann, dem leider vergessenen Politikwissenschaftler, der (nach einem Studium bei Karl Mannheim) an dem von Frankfurt nach New York ausgelagerten Institut für Sozialforschung arbeitete, stammt eine Strukturanalyse der nationalsozialistischen Herrschaft, die einen anderen Blick erlaubt – einen Blick, der überaus hilfreich sein mag, um auch zeitgenössische Formen des totalitären Denkens ins Auge zu fassen.
Denn Neumann begriff den Nationalsozialismus keineswegs als eine Form der Staatsvergottung, sondern im Gegenteil als eine Attacke gegen den Staat – was den Titel seines 1942 erschienenen Buches erklärt, das nach dem Widersacher des Leviathan Behemoth benannt ist. Dass diese Einschätzung keineswegs aus der Luft gegriffen war, wird deutlich, wenn man sich die Äußerungen Hitlers vor Augen hält, der den Staat zu einem bloßen Werkzeug erklärte und demgegenüber der Bewegung den Vorzug gab (»Der Staat ist nicht unser Herr, wir sind die Herren des Staates«). Wie ausgeprägt dieser instrumentelle Blick war – und wie groß Hitlers Verachtung rechtsstaatlicher Selbstverpflichtung -, wird sichtbar an der Rücksichtslosigkeit, mit der Hitler die Institutionen der jungen Demokratie schleifte. Ein besonders erfolgreiches Strategem in diesem Feldzug gegen die Rechtsstaatlichkeit bestand in seiner Förderung, nein, mehr noch: in seiner Herrschaftstechnik der institutionellen Unschärfe. Weil Hitler, als Sozialdarwinist, zutiefst an das „survival of the fittest“ glaubte, wurden die institutionellen Zuständigkeiten systematisch verunklart. So bekam beispielsweise Adolf Eichmanns ›Judenreferat‹ eine konkurrierende Institution zugesellt. Die Folge war, dass die miteinander wetteifernden Institutionen sich in ihren Anstrengungen überboten, um dem Führer zu gefallen – und weil in diesem Spiel Kreativität gefragt war, stellten die verfassungsmäßigen Gebote lästige Fesseln dar, welche die Akteure beherzt abstreifen konnten. Wenn diese Form der frühen Aufmerksamkeitsökonomie1 eine Wirkung hatte, so die, dass der penibel und berechenbar arbeitende Staatsbetrieb nicht mehr der unumstrittene Herr des Geschehens war, sondern ein gestaltloses Monster an seine Stelle trat – auf eine Weise jedoch, mit der man nach außen die Fiktion der Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten konnte. Faktisch jedoch begann der Umbau der Institutionen, der in jene persönliche Herrschaft einmündete, die man später den Führerstaat genannt hat. Wie verheerend sich dies auswirkte, mag eine Erzählung verdeutlichen, die Wolfgang Sofsky in seiner Ordnung der Terrors beschrieben hat. So gab es in den Konzentrationslagern die Regel, dass die Gefangenen nicht ohne ihre Mütze herumlaufen durften. Wenn nun ein Aufseher sie dem Gefangenen abnahm und sie über eine Linie warf, die zu übertreten den Insassen bei Todesstrafe verboten war, war das Dilemma perfekt. Denn was sollte der Gefangene wohl tun, wenn der Aufseher ihn spöttisch daran erinnerte, dass er ohne Mütze herumliefe – und dass er sie gefälligst wieder aufheben solle? Denn ihm war klar, dass ein anderer Aufseher, dessen Aufgabe darin bestand, die unüberschreitbare Grenze zu überwachen, ihn sogleich erschießen würde. In jedem Falle war er des Todes – und die beiden Aufseher, die sich zu diesem perversen Tötungsspiel verabredet hatten, konnten sich einreden, dass sie doch nur den Gesetzen gefolgt waren, die Ermordung des Häftlings mithin rechtens war. Mag das Beispiel überaus drastisch sein, so macht es doch klar, dass die Verunklarung und Instrumentalisierung der Gesetze und Institutionen notwendig auf eine Willkürherrschaft, ja letztlich eine Terrorordnung hinausläuft. In jedem Falle aber greift man zu kurz, wenn man den Behemoth als Synonym für den Bürgerkrieg, als bellum omnium contra omnes begreift, lässt man damit die Möglichkeit außer acht, dass auch ein formal aufrechterhaltener Rechtsstaat sich in ein solches Monster verwandeln kann.
Nun könnte man sich damit beruhigen, dass die Exzesse des Führerstaats ebenso wie die der stalinistischen Herrschaft der Vergangenheit angehören. Jedoch vergisst man darüber leicht, dass das zugrundeliegende Problem keineswegs ausgestanden ist – nämlich dass man in dem Augenblick, da die gegebene Ordnung zu einer bloß instrumentellen herabgewürdigt wird, der Geist der Gesetze der Willkür der je Herrschenden unterworfen wird. Ist dies der Fall, tritt die Logik des Behemoth in den Vordergrund. Halten wir uns die Bedeutung der Bewegungen für die zeitgenössischen politischen Diskurse vor Augen, ist unübersehbar, dass das totalitäre Denken in mancherlei, postmoderner Gestalt Urstände feiert. Dass man Anfang der Jahrtausendwende die Zivilgesellschaft ausgerufen hat, war ein strukturelles Misstrauensvotum gegen den Leviathan – und ein Beleg dafür, dass die Bewegungen der Studentenrevolte ihren Marsch durch die Institutionen erfolgreich absolviert hatten. In jedem Falle brachte die allseits gefeierte Zivilgesellschaft eine neue classe politique hervor, die sich in verschiedenen Vorfeldorganisationen versammelte und die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen trachtete. Dass diese Form der Lobbyarbeit höchst erfolgreich war, war dem Umstand geschuldet, dass sich die Aktivisten den Anschein geben konnte, hehren Zielen zum Durchbruch verhelfen zu wollen – wohingegen die klassische Staatlichkeit einem allgemeinen Toxizitätsverdacht unterworfen wurde. Übersehen wurde dabei, dass das moral grandstanding dem Einzelnen einen moralischen Prestigegewinn einbrachte, der sich in einen pekuniären Vorteil (vulgo: »Staatsknete«) ummünzen ließ. In dem Maße nun, in dem die zivilgesellschaftlichen Bewegungen staatliche Machtpositionen einnahmen, wurden die Weggefährten ihrerseits mit Pfründen versorgt – machte sich jener Drehtüreffekt bemerkbar, bei dem man vom Ministerium in eine Vorfeldorganisation wechselte und vice versa. Wie fatal sich diese politische Grauzone auswirkte, lässt sich an der Politik der vergangenen Dekade studierten. Ein frühes und besonders fragwürdiges Exempel in diesem Kontext lieferte der ehemalige Justizminister Heiko Maas, der im Jahr 2017 das Netzdurchgesetzungsgesetz (NetzDG) durchbrachte, das sehr bald schon, seiner politischen Nützlichkeit wegen, vom autokratischen Russland kopiert wurde, ein Vorgang, den Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen folgendermaßen kommentierte:
Unsere schlimmsten Befürchtungen werden wahr: Das deutsche Gesetz gegen Hassbotschaften im Internet dient undemokratischen Staaten nun als Vorlage, um gesellschaftliche Debatten im Internet einzuschränken.2
Tatsächlich war die russische Kopie keine Form des Missbrauchs, sondern nur eine logische Fortsetzung jener dunklen Selbstermächtigungslogik, die sich bereits bei der Verfassung des Gesetzes offenbart hatte. Um die Öffentlichkeit für sein Gesetzesvorhaben zu erwärmen und dem Ansinnen das entsprechende Feigenblatt zu verpassen, hatte Heiko Maas eine Reihe von Intellektuellen um sich versammelt. Selbige verfassten (nach dem Vorbild der Menschenrechts-Charta) eine Charta, die in vollmundiger Weise den Menschenrechten die entsprechenden Datenschutzrechte hinzugesellte. Merkwürdigerweise scheuten sich die Verfasser nicht, in einer der frühen Fassungen die Lehre des Kronjuristen des III. Reichs, Carl Schmitt zu paraphrasieren. Hatte dieser dekretiert, dass als Souverän gelte, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, behauptete einer der ersten Sätze dieses fragwürdigen Machwerks: „Souverän ist, wer über seine Daten verfügt“.3 Mag die Datensouveränität (aus psychologischen Gründen) ein durchaus nachvollziehbares Desiderat sein – dem Schutz der Privatsphäre vergleichbar -, so ist die Verwendung des Souveränitätsbegriff doch mehr als problematisch. Dies gilt schon für die Art und Weise, wie Carl Schmitt den Souveränitätsbegriff genutzt. nein, mehr noch: missbraucht hat. Denn indem er den Begriff der Souveränität zu einem Sprechakt machte, wurde die Figur des Leviathan dem Dezisionismus einer Einzelperson überantwortet. Dies verleugnet, dass die Entstehung des Leviathan (strukturell betrachtet) nicht die Geistzeugung eines Philosophen ist, sondern sich auf eine Sammelperson bezieht – was der Grund dafür war, dass Thomas Hobbes dem Staat keine rationale Begründung verliehen, sondern Leviathan und Behemoth gleichermaßen eine mythische Herkunft verliehen hat. Wenn Hobbes seinen Leviathan als einen „sterblichen Gott“, zudem als Maschine (als Räderwerkautomaten) begriff, so deswegen, weil man es hier mit einem Wesen zu tun hat, das keinerlei Ähnlichkeit mit lebenden Figuren aufweist.4 Historisch betrachtet könnte man den Leviathan, wie er sich im Denken des Philosophen, dann in Gestalt der entstehenden, mit Verfassung und Zentralbank ausgerüsteten Nationalstaaten artikuliert, als Befriedungsmaßnahme begreifen. In jedem Fall machte der Staat den fortgesetzten Glaubens- und Bürgerkriegen des späten Mittelalters und der Neuzeit ein Ende – denn das Gewaltmonopol des Staates sorgte dafür, dass der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf sein muss.
Hat man dies im Blick, begreift man, dass die Schmitt’sche Privatisierung der Souveränität einen Ebenenbruch darstellt – und dass das Phantom der Datensouveränität hier eine weitere Radikalisierung darstellt. Fortan wird dem Einzelnen eine Machtvollkommenheit zugestanden, die ehedem dem politischen Gemeinwesen vorbehalten war.5 Nun gehört es zur Paradoxie der Datensouveränität, dass sie just in dem Augenblick verfügt wurde, da sich die staatlichen Stellen außerstande sahen, sie tatsächlich durchzusetzen (ein Phänomen, das auch für den Digital Services Act der EU zutrifft). Wenn ein Politiker dies mit der schönen Bemerkung untermauerte: »Die Amerikaner können Daten, wir können Datenschutz!«, ist die Beschreibung des Dilemmas gegeben. Man könnte von einem Selbstermächtigungsakt bei erwiesener Impotenz sprechen. Nichtsdestotrotz waren die Folgen überaus heikel. Denn das Netzdurchsetzungsgesetz führte dazu, dass der Staat die sozialen Plattformen zu Hilfsheriffs machte, die bei Androhung horrender Strafzahlungen juridische und exekutive Aufgaben des Staates zu erledigen hatten. Tatsächlich hat diese Auslagerung staatlicher Gewalt mehr als problematische Folgen. Denn die Internetkonzerne schossen, um Strafzahlungen zu vermeiden, über jegliches Ziel hinaus – wovon die Zensurmaßnahmen der Corona-Zeit ein beredtes Zeugnis ablegen.
Seit diesem Akt, der im Juristischen einen Dammbruch darstellte, ist die Auslagerung staatlicher Hoheit, in Gestalt von Rechten und Pflichten gleichermaßen, zur gängigen Praxis geworden. Im Schatten des Staates haben sich einträgliche Geschäftsmodelle etabliert, die den Amtsinhabern wie den Begünstigen zum Vorteil geraten mögen, à la longue jedoch totalitäres Denken salonfähig machen. Wenn sich ein Ministerium darauf verlassen kann, dass eine staatliche Vorfeldorganisation (mit entsprechenden Mitteln ausgestattet) in ihrem Sinne agiert, muss man sich keinerlei Gedanken darüber machen, ob diese bestimmte Befugnisse überschreitet. Wenn die Vorfeldorganisationen einen unangemessenen Übereifer entwickeln, können sich die Amtsinhaber damit herausreden, dass man damit nichts zu tun hat – hat sich solcherart eine institutionelle Verantwortungslosigkeit etabliert. Umgekehrt sind die Organisationen, die von staatlicher Hilfe leben, peinlichst darum bemüht, die hoheitliche Sympathie, welche ihr Auskommen sichert, nicht zu gefährden. Und weil es hier immer auch eine Art Wettbewerb gibt, hat man, strukturell betrachtet, eine ähnliche Situation, wie sie Franz Neumann in seinem Behemoth beschrieben hat. Weil ein jeder bemüht ist, seinem Geldgeber zu gefallen, ist ein Überbietungswettbewerb eingeläutet, der der Bewegung zusätzliche Stoßkraft verleiht – und dies immer auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit. Die Vorteile, welche die herrschenden Politiker daraus ziehen, sind mit den Händen zu greifen. Da diese Form der Öffentlichkeitsarbeit die entsprechenden Reperkussionen zur Folge hat, lassen sich die Resultate politisch und propagandistisch ausschlachten. Wenn die Regierung, unter tätiger Mithilfe von Correctiv, verschiedener Meldestellen oder Trusted Flaggers allerlei Verschwörungserzählungen in die Welt gesetzt hat, ist es ein Leichtes, sich selbst als Inkarnation der Demokratie und des Rechtsstaats zu feiern, ein Zeremoniell, das durch die Hunderttausende von Demonstranten, die man mit dem erfundenen Skandalon auf die Straße gelockt hat, beglaubigt wird. Dass diese Form der Massenmobilisierung nicht ungestraft an den Politikern vorübergegangen ist, wird sichtbar an den Übergriffen, zu denen man sich ermächtigt fühlt. Wenn die Delegitimerung des Staates ebenso wie Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle als ›staatswohlgefährdend‹ deklariert werden, wenn ein Politiker vom Schlage eines Anton Hofreiter von Journalisten mehr Demut den Regierenden gegenüber einfordert, wenn Hass und Hetze (also Gedankenverbrechen) zu Straftatbeständen werden, bezeugt dies nichts anderes als den Einbruch eines totalitären Denkens – und dies nicht an den Rändern der Gesellschaft, sondern in den Institutionen selbst. Getreu der Losung »Der Staat ist nicht unser Herr, wir sind die Herren des Staates« setzt man sich großzügig über den Geist der Gesetze hinweg. Wäre man mit einem Sinn für schräge historische Vergleiche gesegnet, könnte man meinen, die Barbaren stünden nicht vor den Toren, sondern hätten es sich in den Amtsstuben selbst gemütlich gemacht. In jedem Fall ist damit jene abschüssige Bahn beschritten, die man dem totalitären Staat, dem Behemoth, zuschreibt.
Man vergisst häufig, dass die Gesellschaft für Konsumforschung, die in der Nachkriegszeit die TV-Einschaltquoten lieferte, im Jahr 1934 gegründet wurde – und sich der Sympathie der Nationalsozialisten erfreute. Ziel der Gesellschaft war, wie ihr Vorsitzender, Wilhelm Vershofen kundtat, »die Stimme des Verbrauchers zum Klingen zu bringen«.
Ganz offenbar wurde die Peinlichkeit ruchbar, denn in der überarbeiteten Fassung ist diese Formulierung verschwunden. Gleichwohl ist die Gedankenfigur in Gestalt der Datensouveränität in den Wortschatz und das Denken eingewandert.
In diesem Sinne haben wir hier eine institutionelle Entsprechung dessen, was ich als Alien Logic bezeichnet habe.
Ein Übergang, der die Privatisierungsbewegung deutlich macht, ist das Verbandsklagegesetz, das es Vereinen wie der Deutschen Umwelthilfe etwa erlaubt, nicht im eigenen Namen, sondern im Namen der Allgemeinheit Klage zu erheben (2006 als Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz eingeführt). Auf diese Weise konnten sich Kleingruppen zu Vertretern der Allgemeinheit aufschwingen – eine Selbstermächtigungslogik, welche den Aktionen der Umweltaktivisten gleichsam eingeschrieben ist.