Von Freud stammt die schöne Bemerkung, dass er nach einem seiner ersten Vorträge zum Unbewussten beim Publikum auf ein so nachdrückliches Schweigen gestoßen sei, dass sich seiner die Empfindung bemächtigte, als habe er an den Schlaf der Welt gerührt.1 Diese Formulierung lässt sich als Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes begreifen, bei dem die allgemeine Geschäftigkeit die Form eines Wachtraumes hat. Mögen Historiker wie Christopher Clark zu dem Schluss gekommen sein, dass die europäischen Herrscher wie Schlafwandler in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hineingetaumelt seien, so hat man es mit einem Phänomen zu schaffen, welches erst post ante, mit dem entsprechenden zeitlichen Abstand lesbar ist. Denn solange die Musik spielt und die Akteure sich ihren Traumgebilden hingeben können, müssen sich die Zeitgenossen keineswegs über ihren Somnambulismus im Klaren sein. Ist man jedoch aus dem Schlummer erwacht, ist es nicht schwer, sich vom Platzen der Blase zu überzeugen. In der Tat bietet unsere Gegenwart, auch über die Finanzkrisen der letzten Dekaden hinaus, ein höchst reichhaltiges Anschauungsmaterial. Wenn die Bildungsrepublik Deutschland, die sich in der Ära Merkel eine Exzellenzinitiative verordnet hat, gewahren muss, einer regelrechten Bildungskatastrophe gegenüber zu stehen, wenn die Brücken einstürzen und das Nie-wieder der Nachkriegszeit sich einem geifernden Antisemitismus gegenübersieht (der mit der Markierung „jüdischer Wohnungen“ die Erinnerung an die schrecklichsten Zeiten deutscher Geschichte wachruft), so hat man es nicht mit plötzlichen Erschütterungen zu tun, sondern mit den Resultaten eines langen Wegschauens. Denn selbstverständlich wird ein funktionierendes Bildungssystem nicht über Nacht geschleift, sowenig wie die Verwahrlosung der gesellschaftlichen Infrastruktur als Handstreich zu werten ist – ganz zu schweigen von den Sonntagsreden, bei denen man als moralischer Weltmeister über Stolpersteine hinweg balancieren und sich am „besten Deutschland aller Zeiten“ erfreuen konnte. Vielmehr hat man es wohl mit einer chronifizierten Gegenwartsblindheit zu tun, einer Verblendung, die sich dem Alltag eingebrannt und nicht selten die Form eines Geschäftsmodells angenommen hat. Mögen die Kirchenväter für diesen Zustand den Begriff der acedia gewählt und die Trägheit des Herzens in den Rang einer Todsünde erhoben haben, so bleibt die Massenpsychologie, was die Erklärung dieses Phänomens anbelangt, weitgehend sprachlos. Zwar weiß man, in Anbetracht viraler Logiken, um die Ansteckungsgefahr, welche die Masse in eine moralische Paniken versetzt, indes hat man keinen Begriff, der die Ätiologie dieser schleichenden, stillen Verblendung zu beschreiben weiß. Weil man es beim Schlaf der Welt mit einem chronifiziertem, zudem ins Unbewusste hinüber gerutschten Verhalten zu tun hat, ist selbst der Beginn dieses Schwundgeschehens nicht leicht zu diagnostizieren. So könnte man der Meinung sein, dass die Gesellschaft vor allem in der letzten Dekade in einen Tiefschlaf gefallen ist, aber eine Reihe von Argumenten sprechen dafür, dass man noch viel weiter zurückgehen muss. Mögen die Zeitgenossen jetzt, mit Deindustrialisierung, einer zerstörten Infrastruktur und einem zum Zerreißen angespannten Gesellschaftsgewebe konfrontiert, aus dem Schlummer aufgewacht sein, so stellt sich die Frage, ob das Gewahren des Phantasmas wirklich ausreichend ist, um die entsprechenden Gegenschritte einzuleiten. Denn ist man sich über die Ursache der eigenen Verblendung nicht im Klaren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man letztlich nur an Symptomen herum laboriert, hoch – ganz abgesehen davon, dass der chronifizierte Somnambulismus in eine Form der Wahrnehmungsstörung einmündet. Nimmt man die verschlafene Digitalisierung als Beispiel, ist evident, dass ein verpasster Beginn katastrophale Folgen zeitigen kann – denn hat man einmal den Anschluss verpasst, so wird die Welt, die sich ja in den letzten drei Dekaden in Windeseile, nein, mit Lichtgeschwindigkeit voranbewegt hat, nachgerade unleserlich. So steht man wie der Ochs vorm Berg, unfähig, dieses ebenso kryptische wie hyperkomplex anmutende Gebilde auf seine Grundbausteine zurückzuführen. Und wenn unsere classe politique einen stupenden digitalen Analphabetismus an den Tag legt, drängt sich der Eindruck auf, dass das allfällige Insistieren auf dem Datenschutz allein den Zweck verfolgt, sich der überfälligen Alphabetisierungsmaßnahme zu entziehen. Hält man sich vor Augen, dass hystera in der Antike nicht bloß die Folge eines versagten Kinderwunsches bedeutet hat (eine ambulante gewordene, verzweifelt im Körper herumirrende Gebärmutter), sondern dass damit zugleich das Zuspätkommen des Schauspielers gemeint war, weist das Gebaren unserer histrionischen Politdarsteller vergleichbare Züge auf. Und was tut man wohl, wenn man sich in der Gegenwart nicht mehr zurechtfindet? Wo der Akteur verliert, was man neudeutsch agency zu nennen sich angewöhnt hat, bleibt nichts als Aktionismus, ein leeres Gefuchtel, mit dem man sich über den Verlust des Geistesgegenwart hinweg rettet.
Wenn die Massenpsychologie unserer Tage allein allein mit der moralischen Panik, der Logik der Viralität oder kognitiven Dissonanzen aufwarten kann, mag es sinnvoll sein, auf die Welt der Fiktion und des Märchens zurückzugreifen. In diesem Kontext bietet sich eine Neulektüre des Dornröschen-Stoffs an, umsomehr, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Stoff, den die Gebrüder Grimm der deutschen Lesegemeinde hinterlassen haben, keineswegs die älteste Form dieses Märchens abbildet, sondern die Umschrift eines Textes darstellt, den ein höchst luzider Intellektueller und Kulturpolitiker hinterlassen hat. Charles Perrault (1628-1703), der neben Rotkäppchen, dem Gestiefelten Kater auch die Schlafende Schöne im Wald hinterlassen hat, war nicht nur ein Miterbauer des Louvre, zudem zuständig für die Bauaufsicht des Versailler Schlosses, sondern einer der Gründungsväter der Académie française, als deren erster Sekretär er wirkte. Was ihn in seiner Zeit zu einer Berühmtheit werden ließ, war sein unbedingter Modernismus. Denn anders als seine Zeitgenossen war Perrault keineswegs der Ansicht, dass die Klassik die unerreichte Klimax des Kulturgeschehens darstelle, sondern vertrat umgekehrt die Meinung, dass die Gegenwart der Vergangenheit weit überlegen sein.
Diese Position mündete in eine lange, mit Vehemenz geführte Debatte ein, die als Querelle des Anciens et des Modernes in die Geschichte eingegangen ist. Anlass war ein Vortrag, den er in der Französischen Akademie im Jahr 1687 gehalten und in dem er, als überzeugter Modernist, die Meinung vertreten hatte, dass das Jahrhundert des Sonnenkönigs allen anderen Zeiten überlegen sei. Liest man das Dornröschen-Märchen (La belle au bois dormant) unter diesem Gesichtspunkt, begreift man, dass es um die Frage der Geistesgegenwart geht – etwas, was in der Perrault’schen Fassung mit den Händen zu greifen ist. Dies wird insbesondere deutlich an den Modifikationen, die er an dem Stoff vornahm, der in seiner ursprünglichen Fassung erstmalig von Giambattista Basile, dem großen europäischen Märchenerzähler, vorgelegt worden war. Bei Basile fiel die Königstochter Thalia, der man eine große Gefahr durch eine Flachfaser geweissagt hatte, nachdem sie sich an einer Flachfaser gestochen hatte, einfach tot um, ein Unglück, das den verzweifelten Vater zu einer sonderbaren Gedächtnisversiegelungs-Maßnahme greifen lässt.
… ihr armer Vater, vom Unfall unterrichtet, bezahlte erst mit ganzen Fässern Tränen diesen Becher Wermut, ließ dann die tote Tochter im Lustschloss, in dem er sich eben befand, auf einen Samtsessel unter einen Thronhimmel von Brokat setzen, worauf er alle Türen verschloss und den Ort, der die Ursache solchen Unglückes gewesen, verließ, um gänzlich und für immer sein Andenken aus dem Gedächtnis zu bannen.
Kurzum: das Schloss verwandelt sich zu einer Nekropole, in der allein das totgeglaubte Dornröschen thront. Perraults Fassung weicht gleich in mehreren Punkten von der Renaissance-Vorlage ab. Alle sind dadurch gekennzeichnet, dass man hier nicht mit einem individualpsychologischen, sondern einem gesellschaftlichen Vorgang zu tun hat. Und weil es Perrault um das Schicksal des Kollektivs zu tun ist, lässt er mitsamt dem Dornröschen den ganzen Hofstaat in einen Dornröschenschlaf fallen. Nun fügt sich diese Kollektivierungslogik gut in den Erfahrungsschatz des Verfassers, der mit der Etikette der Entstehung jenes Gesellschaftsspiel beiwohnen konnte, welches der Soziologe Norbert Elias als die Signatur der modernen Gesellschaft begriffen hat. Weil sich hier (wie in der Aufmerksamkeitsökonomie2) Nichtigkeiten an die Stelle der Realitäten gesetzt haben, lässt Perrault das Märchen mit einer Verletzung der derselben beginnen. Denn man hatte eine alte Fee übersehen, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil man seit mehr als hundert Jahren nichts von ihr wusste und sie für tot oder verschollen hielt.
Man bat sie, Platz zu nehmen, aber betreffs des goldenen Bestecks war der König in großer Verlegenheit, denn schon damals hatten die Könige nicht immer so viel Gold, wie sie brauchten. Man legte ihr also ein gewöhnliches Besteck vor und entschuldigte sich. Die alte Fee aber fühlte sich beleidigt, murmelte etwas zwischen den falschen Zähnen und machte ein böses Gesicht.
Nun rächt sich die alte Fee für den Bruch der Etikette damit, dass sie der Königstochter weissagt, sie werde sich in ihrem fünfzehnten Lebensjahr an einer Spindel stechen und sterben. Wird dieses Todesurteil durch das Diktum einer anderen Fee in einen 100jährigen Schlaf umgemünzt, so lässt Perrault seinen König ganz auf die Gesetzeskraft und die Staatsmaschine vertrauen (auch dies eine Verschärfung zur ursprünglichen Fassung, bei der der König nur ein „strenges Gebot“ ausspricht).
Der König glaubte mit Verboten und Drohungen alles durchsetzen zu können. Und um das Unglück zu verhüten, erließ er ein Verbot, welches alles Spinnen und jede Hantierung mit Spindeln im ganzen Reiche aufs strengste untersagte und Verbannung und Verbrennung sämtlicher Spindeln anordnete. Und sobald das Gesetz ergangen war, verließ sich der König auf seine Beamten und war ganz ruhig.
Ungeachtet der uhrwerkartig tickenden Staatsmaschinerie wird die Weissagung wahr. Denn die Tochter nutzt die Abwesenheit ihrer Eltern und schaut sich im Schloss um, wo sie in einem kleinen Speichergemach einer alten Frau, einem lebenden Anachronismus begegnet. Und weil die Neugierde übermächtig ist, sticht die Kleine sich und sinkt schlafend zu Boden. Und mit diesem Akt kommt es zu jenem Zustand der eingefrorenen Zeit, der nicht mehr die Königstochter allein, sondern den gesamten Hofstaat betrifft:
Und in demselben Augenblicke schlief mit ihr alles ein, was im Schlosse war, die Kammerherren, die Hofdamen, die Möpse, die Jagdhunde, die Leibkatzen, die Kammermädchen, die Hofmusizi, die Pferde im Stalle, die Schwalbe im Neste, die Nachtigall im Busche, die Taube auf dem Dache, die Pagen, die Türsteher, die Hundejungen, die Läufer, die Köche und Küchenjungen, die Beschließerin, das Feuer auf dem Herde, das Wasser am Rohrbrunnen und im Springbrunnen, selbst Blumen, Büsche und Bäume und selbst der Wind, der eben über das Schloss wehte, alles in der Stellung und Lage, die es eben hatte, als die Prinzessin in Schlaf sank. Rings um das Schloss aber begann es zu sprossen, zu wachsen und zu treiben, und bald war es von einer dichten, undurchdringlichen Dornhecke umgeben. Und um die Dornhecke wiederum wuchs ein gewaltiger, so hoher Wald, dass kaum die Turmspitzen des Schlosses, und diese auch nur aus weiter Ferne, sichtbar blieben. Und Bäume, Sträucher, Dornhecken und Schlingpflanzen aller Art woben und schlangen sich so ineinander, dass in das Schloss gar nicht zu gelangen war und dass man es im Lande nach und nach ganz vergaß.
Wenn das Schloss und die darin befindliche Hofgesellschaft, mit Mann und Maus, dem Schlaf der Welt anheimfällt, so hat man es bei dem Zustand der eingefrorenen Zeit nicht mit einem Stillstand, sondern einer Form der Verwilderung zu tun. Und ebenso wie die Natur hypertrophiert, machen sich in der Gegend um das Schloss Dämonen und Menschenfresser bemerkbar.
Der Wald sah erschrecklich aus, und noch erschrecklicher war, was man ihm [dem Prinzen] erzählte: von den unzähligen Königssöhnen, die in den Dornhecken wie in Schlingen hängengeblieben und sich zu Tode gezappelt; von den bösen Geistern, die in dem Schlosse umgehen und jeden Eindringling zerreißen sollten; von einem bösen Riesen, der es bewohne und Kinder und Erwachsene fresse.
Folgen wir der Perrault’schen Logik, könnte man sagen, dass der Schlaf nicht nur eine Form des Stillstandes ist, sondern dass er begleitet wird von einem Rückfall in eine vormoderne, mythische Welt, eine Welt, in der Menschenfresser umhergehen und die Natur, von magischen Wesen bevölkert, sich zur Bedrohung verwandelt. Wie wichtig dieser Regress für die Erzählung ist, wird sichtbar daran, dass bei Giambattista Basile wie bei Perrault das Märchen keineswegs mit dem Kuss des Prinzen beendet ist, sondern dass sich dem eine höchst komplexe Folgegeschichte anschließt. In der Fassung Basiles nämlich ist der Prinz ein König, zudem verheiratet. Nachdem er mit der scheintoten Prinzessin Geschlechtsverkehr gehabt und ihr zwei Kinder gezeugt hat (Sonne und Mond, die im menschenverlassenen, versiegelten Schloss von unsichtbaren Feen verköstigt werden), kehrt er zu seiner Ehefrau zurück. Die freilich bemerkt seine Veränderung und bittet schließlich, als sie dem Rätsel der Zweitfrau und ihrer Kinder auf den Grund kommt, diese in ihren Palast. Fühlt sich das Dornröschen (die hier Thalia heißt) von ihrer Aufmerksamkeit geschmeichelt, ist die Gastfreundschaft nur ein Finte, denn die Königin weist ihren Koch an, ihrem Gatten die Kinder der Thalia zur Speise vorzusetzen. Ein vergleichbares Nachspiel findet sich auch bei Perrault: Hier ist es nicht die Gattin, sondern die Mutter des Prinzen, welche den Anhang ihres Sohnes, den er nach dem Tode des Vaters legitimiert und zu sich geholt hat, aus der Welt schaffen möchte. Sie nutzt die Abwesenheit des Sohnes, der in den Krieg ziehen muss, und weist den Haushofmeister an, ihr die kleine Morgenröte, die Tochter Dornröschens, als Mahl zuzubereiten. Dass sie dabei in einen Menschenfresserton verfällt, bezeugt, dass die Verwilderung des Waldes sich auch der Psyche bemächtigt hat – womit die Fallhöhe der höfischen Dekadenz angezeigt ist. Zuallererst freilich zeigt sich selbige dem Prinzen, der sich dem erwachenden Dornrörschen gegenübersieht, als ein sonderbares Aus-der-Zeit-gefallen-Sein.
Der Königssohn half Dornröschen, deren Glieder noch immer etwas eingeschlafen waren, aus dem Bette. Sie war ganz angekleidet, wobei er bemerkte, dass ihre Toilette die größte Ähnlichkeit hatte mit der seiner seligen Großmutter. Aber er hütete sich, darüber ein Wörtchen zu verlieren. Er ging sogar so weit, ihre veraltete Tracht von anno dazumal auf feine Weise zu loben, was ihm in ihren Augen gewiss nicht schadete, obwohl sie tat, als läge ihr an solchen Kleinigkeiten wie Kleider und Putz nicht das allermindeste.
Der Anachronismus wiederholt sich auf mehreren Ebenen. So mutet der ganze Hofstaat nicht nur, was die Kleidung, sondern auch das Gebaren und die Praktiken anbelangt, wie aus der Zeit gefallen an – klingen die Weisen, die das Hoforchester dem Paar spielt, dem Königssohn wie „Musik aus einer anderen Welt“.
Verlassen wir die Märchenwelt und übertragen die Gedankenfigur des gesellschaftlichen Dornröschenschlafs auf unsere Zeit, fällt auf, dass der Schlaf nicht bloß eine Form der Nichtwahrnehmung (d.h. eine Unterlassungssünde) ist, sondern dass er, wie im Märchen, begleitet wird von Verwahrlosungserscheinungen, die wie ein Rückfall in vormoderne Zeiten anmuten. Schon aus diesem Grund muten Begriffe wie Eskapismus oder Realitätsflucht letztlich wie Euphemismen an, Beschwichtigungsformeln, die dem Ernst der Lage keineswegs gerecht werden. Denn mag man, erwachend, das Gefühl hegen, in einen Alp, nein, in einen grässlichen Wachtraum hinein katapultiert worden zu sein, bleibt der Augenblick, da man in den Schlaf gesunken ist, eine Leerstelle. Und weil es keine erinnerliche Ursache gibt, bleibt auch die Analyse der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen weitgehend aus. Nehmen wir als Beispiel die große Finanzkrise, ist unübersehbar, dass die gedanklichen Fehlschlüsse, die in diese Katastrophe hinein geführt haben, bis heute unerhellt geblieben sind. Dass man pauschal den Neoliberalismus als Schuldigen dingfest gemacht hat, gleichzeitig aber der Frage ausgewichen ist, was dies mit dem free floating und den Übergang in das Postmaterielle zu tun hat, ist nur die umschreibende Bemäntelung einer gedanklichen Leerstelle.3 In diesem Sinn ist der gesellschaftliche Dornröschenschlaf sehr viel heimtückischer als die moralische Panik, die sich in ihrer Outriertheit als eine Form des Massenpsychose verrät - und aus diesem Grund leicht entzifferbar ist. Demgegenüber wirkt der Dornröschenschlaf wie ein kollektives Sedativ, an das man sich gewöhnt und das schleichend das eigene Verhalten formiert. Erst wenn die Blase geplatzt ist, begreift man, in welchem Maße man sich einer psychischen Inflation hingegeben hat und Wünsche für Realitäten genommen hat. Legt man das Perrault’sche Bild der eingefrorenen Zeit darüber, wäre zu schlussfolgern, dass der Somnambulismus sich nicht in Gestalt der Schlafwandelei zeigt, sondern darin, dass man veränderten Gegebenheiten zum Trotz auf einem business as usual insistiert – oder wie der Volksmund so treffend behauptet: dass man bestimmte Dinge noch im Schlaf zu erledigen weiß. In diesem Sinn verwandelt sich die Realität in eine Form des Wachtraums, bei dem alles, vom Gewicht der Welt befreit, unendlich leicht von der Hand geht. Die Finanzkrise bietet hier insofern ein massenpsychologisch interessantes Beispiel, als sich hier der Übergang in den Geistesdämmer nachvollziehen lässt. Hatte man das Scheitern der dotcom-Bubble gerade hinter sich gebracht, besann man sich auf die vermeintlich ehernen Werte des Kapitalismus: Grund und Boden. Man könnte darin nachgerade eine Form des kapitalistischen Fundamentalismus erblicken. Entsteht Fundamentalismus immer dann, wenn die Fundamente ins Schwanken geraten sind und an Tragfähigkeit eingebüßt haben, waren die fraglichen Objekte tatsächlich nichts weiter als ein Memento. Denn ausschlaggebend war keineswegs der Wert des jeweiligen Objekts, sondern ihre massenhafte Bündelung, die mit einem Triple-AAA Rating versehen war – und dahinter wiederum stand das Versprechen, dass man mit statistischen Maßnahmen das Risiko einer Fehlinvestition einhegen, wenn nicht gar vollkommen ausräumen könne. Hat sich dies unserem Gedächtnis als Immobilienkrise eingebrannt, so lässt der Begriff des real estate ahnen, dass das Vertrauen in die Statistik im Grunde eine Realitätsentkopplung darstellt. Wenn Alan Greenspan, der in der betreffenden Zeit das quantitative easing zur Lösung der Wirtschaftsprobleme empfahl, der Meinung anhing, dass die Risikobewertungs-Modelle der Immobilien so komplex seien, dass nur Quantenmechaniker sie zu entziffern vermöchten, sieht man schön, wie man sich hier gedanklich in einem geistigen Dämmerzustand eingerichtet und sich der Welt der Wunschmaschinen überlassen, die, wie man weiß, die Träume wahr werden lassen.
Wie man weiß, werden die Finanzblasen in statu nascendi kaum begriffen, nicht zuletzt deswegen, weil sie als ökonomisches Rationale begriffen werden, als gesellschaftliche Verbindlichkeit mithin. Folglich bewegt sich das Kollektiv in einem Zustand des Wachtraumes, einer gedanklichen Blase, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass man, was man an intellektueller Präsenz und Geistesgegenwart vermissen lässt, mit schlafwandlerischer Leichtigkeit kompensiert. Es kommt mithin zu jenem Zustand, den C.G. Jung sehr treffend ›psychische Inflation‹ genannt hat. Aber wie man weiß, kommt der Augenblick, da man mit den Realitäten konfrontiert wird. Und weil die Welt sich unterdessen voranbewegt hat, ja, nachgerade eine Form der Unlesbarkeit darstellt, fällt das Erwachsen umso schmerzhafter aus. Wenn sich die Akteure heutzutage vor allem der Realitätsvergessenheit zeihen, wenn die Erweckten ihrer Gegner als umnachtet und ideologisch verblendet darstellen, so lässt sich daraus nicht notwendig ableiten, dass man begriffen hat, was die Gesellschaft in den kollektiven Dämmer hineingeführt hat. Folgt man den Satz Theodor Däublers („Der Feind ist meine eigene Frage in anderer Gestalt“) ist die Charakterisierung des politischen Gegners als verblendet und realitätsvergessen ein wunderbares Strategem, um von sich selbst abzulenken– womit man die eigentlichen Ursachen der Malaise aus dem Blick schaffen kann. In der Tat lassen sich viele der zeitgenössischen Debatten, auch wenn sich die Akteure als „woke“, d.h. erweckt darstellen, als künstliche, gewalttätige Verlängerungen des Schlafseligkeit darstellen. In diesem Sinne hat der von Perrault angezettelte Streit der Alten und der Modernen gar nicht aufgehört, erweisen sich viele zeitgenössische Praktiken als eine Form der Realitätsverweigerung, die, weil sie sich noch immer auszahlt, als solche nicht zu begreifen vermag. Der vielleicht größte Kunstgriff – und auch davon erzählt das Perrault’sche Märchen – besteht darin, dass man über die Regression, über den Rückfall in die Vergangenheit, der Verlegenheit enthoben ist, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Oder plakativ gesagt: Fährt man die Geister der Vergangenheit auf (Rassismus, Kolonialismus, den metaphysischen Nazi etc.), so kann man, in demonstrativer Wachsamkeit, sich das Etikett der Geistesgegenwart ankleben.4 Der einzige Unterschied ist: Konnte man ehedem, im business as usual, sich in leerer Geschäftigkeit ergehen, stehen nun die Schlachten der Vergangenheit auf dem Spielplan, ist so etwas wie ein symbolischer Bürgerkrieg angesagt.
Die auf ein Zeile von Hebbel zurückgeht, der in seinem Theaterstück Gyges und sein Ring geschrieben hat: “Nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt!”
Es ist interessant, dass sich Pierre Bourdieus „kulturelles Kapital“ den Beobachtungen von Norbert Elias verdankt, welche sich auf die Entstehung der Etikette beziehen.
Um diese Behauptung zu belegen, muss man sich lediglich Friedrich von Hayeks Reaktion auf das Ende von Bretton Wood anschauen, welches er in einem Buch dargelegt hat, das er Die Entnationalisierung des Geldes betitelt hat. Hayek plädiert hier für die Abschaffung des staatlichen Zentralbankprivilegs und dass die Geldstiftung (das fiat Geld) sehr viel besser von Kunden- und Markt-orientierten Privatbanken bewerkstelligt werden könnte. Hier stellt sich selbstverständlich die Frage, wie man das Publikum davon überzeugen kann, der Stiftung einer Privatbank – die selbstverständlich auch eine Burckhardt ex nihilo inc. sein könnte – Glauben schenken kann. Hayeks Lösung markiert tatsächlich einen Rückfall erster Ordnung, glaubt er doch, dass eine solche privatwirtschaftliche Währung durch Gold gedeckt sein müsse.
Ein anderer, höchst überzeugender Kunstgriff in diesem Spiel ist, dass man sich im Sinne eines paradoxen Nominalismus eben jener Begriffe bedient, deren innerer Logik und Verbindlichkeit zu folgen man keineswegs bereit ist. Weil man (wie das Robert Koch-Institut dies in der Corona-Krise mit schönster Deutlichkeit vorgeführt hat) als Besitzer der Daten und vermeintlicher Gewissheiten Autorität für sich reklamiert, fährt man in dem Augenblick, da die Gesellschaft die Bringschuld einfordert, zur Erklärung der eigenen Untätigkeit den Datenschutz auf. Auf die gleiche Weise zettelt man Auseinandersetzungen um Desinformation an – und tritt gegen Hass, Hetze an.