Vielleicht ist die Psychologie des Copy Pasters eine der größten Leerstellen unserer heutigen Zeit – hat man es hier doch mit einem Spezimen zu tun, das erst um die Jahrtausendwende, dann allerdings höchst massiv in Erscheinung getreten ist. Haben frühere Zeiten dieses Wesen, je nachdem unter das Werther-Syndrom oder den Bovarysmus zu subsumieren versucht, als eine Form, den eigenen „Roman zu leben“ , scheint das Design der eigenen Identität nun zur Lebensaufgabe geworden zu sein. Fällt einem dazu nur wenig ein, kann man sich mit einem Mausklick die Lebensleistung eines oder mehrerer anderer Menschen einverleiben. Ein solcher Schachzug ist umso attraktiver, als die akademischen Titel, ebenso wie der Nimbus des Autors eine gewisse soziale Reputation versprechen. Schon aus diesem Grund haben mich die Enthüllungen des Plagiatsjägers Stefan Weber stets interessiert. Dass sie ins Zentrum zahlloser politischer Skandale geführt haben (einfach deswegen, weil die Frage des Plagiats die charakterliche Integrität von Menschen berührt, die sich in der Öffentlichkeit zu moralischen Instanzen aufgeschwungen haben), ist bemerkenswert genug; sehr viel rätselhafter aber ist die zugrundeliegende Frage, nämlich, was Menschen dazu bewegt, sich mit falschen Federn zu schmücken, ja, was sie dazu verleitet, noch die intimsten Empfindungen, die eigenen Tränen z.B., zu plagiieren. So besehen stellt der Copy Paster beinahe so etwas wie ein unerforschtes Wesen dar, ja, könnte man ihm nachgerade den Slogan der Anonymus-Hacker zuschreiben:
We are Anonymous. We are Legion. We do not forgive. We do not forget. Expect us.
Tatsächlich sind die Plagiatsfälle, die Stefan Weber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, unterdessen Legion. Das beginnt mit dem Fall Karl-Theodor zu Guttenbergs 2011 – und setzt sich fort: Johannes Hahn, Norbert Lammert, Diana Kinnert, Matthias Döpfner, Annalena Baerbock – um nur die prominentesten Plagiatoren zu nennen. Interessanter jedoch als der trübe Umstand, dass die Identitätsfälschung zu einem Gesellschaftsspiel geworden ist, ist die Frage, was die zugrundeliegenden sozialen Faktoren sind – mehr noch, warum selbst Institutionen, die (wie die Universität) das höchste Interesse an der Integrität ihrer Forschung haben sollten, hier ein, nein mehr noch, alle beiden Augen zudrücken.
Stefan Weber ist habilitierter Kommunikationswissenschaftler. Dass er zum berühmt-berüchtigten Plagiatsjäger wurde, ist der Tatsache geschuldet, dass seine eigene Doktorarbeit gleich ein dreifaches Plagiat erlebte – und somit auf höchst persönliche Weise auf diese Thematik gestoßen wurde. Unterdessen hat er die „Plagiatsjagd“ zur Lebensaufgabe gemacht – immer mit dem Blick darauf, dass das Problem der akademischen Integrität eine Frage ist, die in den Zeiten von ChatGPT das Fundament der heutigen Wissensproduktion affiziert.
Von Stefan Weben sind (u.a.) erschienen:
Themenverwandt
Im Gespräch mit ... Konrad Paul Liessmann
Sich mit Konrad Paul Liessmann über Bildung zu unterhalten, heißt, dass man sich über die Theorie des Rennrads Gedanken machen muss – und darüber, ob die Philosophie als eine Form des geistigen Bodybuildings zu betrachten ist. Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Raum wohl keinen anderen Philosophen, der si…
Im Gespräch mit ... Bernhard Krötz
Es passiert nicht allzu häufig, dass jemand, der eigentlich in der höheren Mathematik zuhause ist (und sich dort mit reellen sphärischen Räumen, Liu-Gruppen und Fragen der Spektralanalyse beschäftigt), sich in die Niederungen unseres Bildungssystems hinein verirrt, mehr noch, dass er den Schulunterricht darauf befragt, ob er das, was zu leisten er vorgi…
Talking to ... Sam Vaknin
Sam Vaknin is an Israeli author who’s written extensively on the question of borderline and narcissism - and this with an unparalleled clarity. Above all, he, who has wonderfully declared himself a contemporary of Shakespeare, is someone whose gaze looks far beyond the narrow confines of the psychological discipline. This is due not least to t…
Share this post