Mag sein, dass der Titel dieses kleinen Textes kontraintuitiv ist, in einem solchen Maße, dass er sich deplatziert, wie eine Geistesverirrung anfühlt. Denn was haben unsere „woken“ Weltenretter mit den Wölfen der Wallstreet zu schaffen? Folgt man ihrem Selbstverständnis, nehmen sie mit der Behauptung eines durchweg toxischen, ausbeuterischen Gesellschaftssystems eine antikapitalistische Gegenposition ein. Von daher mag die Vorstellung, dass diese Eiferer irgendetwas mit dem Neoliberalismus zu tun haben könnten, schlichtweg abwegig erscheinen – umso mehr, als auch das Rollenverständnis der Akteure diametral auseinanderläuft. Denn während sich die neoliberalen Gesellschafsneuerer, bevor ihr Kartenhaus in sich zusammenfiel, als Masters of the Universe gebärdeten, kultivieren die woken Eliten einen Opferstatus, speist sich ihr politischer Anspruch daraus, von einer fossilen Nomenklatura um die eigene Zukunft betrogen worden zu sein. Was jedoch verdächtig stimmen sollte, ist der Umstand, dass man es hier mit einer Egozentrik zu tun hat, deren wesentliches Ziel im gesellschaftlichen Fortkommen liegt. In diesem Sinn erweisen sich die identitätspolitischen Ansprüche keineswegs als Formen der Selbstgenügsamkeit oder der Selbstreflexion, sondern stellen, als Schuldzuschreibungen, Forderungen dar, die von anderen beglichen werden müssen. Von daher verwundert es nicht, dass all dem eine Form der moralischen Suprematie erwächst – und dem einher geht ein Anspruch auf öffentliche Aufmerksamkeit, die, wie wir wissen, in den Zeiten von Social Media eine Monetarisierungsquelle darstellt.
Um die tiefe, innere Verwandtschaft zwischen neoliberalem Denken und woker Ideologie zu verstehen, muss man in die 80er, frühen 90er Jahre zurückgehen, jene Zeit mithin, in der das neoliberale Denken (das zuvor das Glaubensbekenntnis einer kleinen, eher randständigen Ökonomen-Kohorte darstellte) zu großer Form auflief. Fragt man danach, wie und warum diese Denkschule urplötzlich eine so große Anziehungskraft entfalten konnte, gilt es daran zu erinnern, dass mit der Heraufkunft des Computerzeitalters die Geldwirtschaft ins Zeitalter des free floating übergegangen war – und dass das Kapital, von Fax, Email und Computerprogrammen gesteuert, die nationalen Grenzen hinter sich lassen konnte. Wenn also die neoliberalen Denker reklamierten, dass der Markt die Rolle des Staates einnehmen könne, so nur auf der Basis einer technologischen Lösung, nicht aber, weil die eigene Reflexionsebene urplötzlich in ungeahnte Höhe hinaufgeschossen wäre.1 Nun bedeutet die Möglichkeit, den eigenen Geschäften nunmehr computeraugmentiert nachzugehen, im Umkehrschluss keinesfalls, dass die Akteure sich einer digitalen Alphabetisierungsmaßnahme unterzogen hätten – wovon der Crash des 19. Oktober 1987 ein beredtes Zeugnis ablegt, der vor allem darauf zurückzuführen war, dass alle Broker ihre Transaktionen an ein- und desselben Computerprogramms outgesourct hatten. Versucht man die Attraktivität des neoliberalen Denkens in eine psychologische Begrifflichkeit zu übersetzen, so könnte man von einer antiautoritären Jugendrevolte sprechen, einer Form des monetären Vatermords. Der Staat, so die Lehre, die Friedrich von Hayek und Milton Friedman verbreiteten (und die bei Politikern wie Margret Thatcher und Ronald Reagan auf offene Ohren stieß), sei eine Instanz, welche ihre Bürger in die Knechtschaft geführt habe – wohingegen die Märkte eine Befreiung vom Joch des Leviathans verhießen. Die Verheißung indes, dass die Entfesselung der Märkte notwendig auf eine Steigerung des Gemeinwohls hinausliefe, erwies sich sehr bald schon als bloße Marketingmaßnahme. Denn die ersten Schritte, zu denen sich die entfesselten Märkte ermannten, bestanden in dem, was man in den 90er Jahren unfriendly takeovers nannte: feindliche Übernahmen. Das Prozedere dieser Übernahmen war immer dasselbe: Da taten sich die Investoren und Banken zusammen, um sich in den Besitz einer profitablen Firma zu bringen – mit dem Ziel, die weniger profitablen Firmenteile zu verkaufen oder durch die Arbeiterschaft eines Drittweltlandes zu ersetzen. Kurz gesagt, erschöpfte sich das Strategem in der Realisierung eines Arbitragegewinns – darin, dass die Kapitaleigner Verträge zu Lasten Dritter abschlossen, all der Arbeiter nämlich, die auf diese Weise in die neoliberale Freiheit (= Arbeitslosigkeit) entlassen wurden. Auf diese Weise aber wurde nichts wirklich Neues geschaffen, sondern kam es zu jener Abwärtsspirale, bei der sich die Kapitaleigner vor allem durch die Senkung der Arbeitskosten zu bereichern vermochten. Dass man diesen Prozess, der sich allein der Digitalisierung verdankte, mit dem Emblem der ›Globalisierung‹ versah, ist Beleg einer geistigen Verirrung, bei der man Ursache und Wirkung nicht auseinanderzuhalten vermochte.
Wie sehr der Zeitgeist der neoliberalen Droge anheimgefallen war, wurde bereits in den 90ern deutlich. Hatte sich in England mit New Labour eine neue Form des Politmanagements etabliert, begriffen sich die Politiker zunehmend als Makler, deren Hauptaufgabe darin bestand, in der Standortkonkurrenz dem eigenen Heimatland Pluspunkte zu verschaffen. Folglich beeilte man sich, lang gehegte Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Mit der Aufhebung des Glass-Steagall-Acts unter der Clinton Administration hatte sich das Kapital aller sozialen Fesseln entledigt. Strukturell hatte sich nun jede Geschäftsbank in einen global player verwandelt, der nach Belieben im Spiel der globalen Limboökonomie mitmischen konnte. Was den Banken recht war, war der Politik nur billig. Und so wie die neoliberalen Vordenker, im Insistieren auf die Marktrationalität, sich den Anschein einer höheren Weisheit geben konnten, stand es er der Klasse der Politmanager frei, sich einen neuen, zeitgeistigen Anstrich zu verpassen. Dabei waren die Praktiken, zu denen man sich dabei verstieg, nicht minder fragwürdig als jene Piraterien, welche die unfreundlichen Übernahmen der 90er Jahre charakterisiert hatten. Ein Beispiel: So präsentierte der Stadtkämmerer der Stadt Köln im Jahr 2000 einen verblüfften Öffentlichkeit einen Scheck, auf dem die stolze Summe von 1.3 Milliarden Euro prangte. Wofür? Nun, er hatte einem ungenannten Konsortium, das in Georgetown auf den Cayman Islands residierte, die Kölner Wasserwerke verleast – und dieses Konsortium wiederum war eine Gesellschaft, die es reichen Amerikaner ermöglichte, durch eine Investition ihre Steuerlasten zu mindern (womit abermals ein Vertrag zu Lasten Dritter geschlossen ward). Erstaunlicher noch als dieser Taschenspielertrick war, dass ein solches Gebaren nicht als eine Form der öffentlich-rechtlichen Piraterie kritisiert, sondern allgemein bejubelt wurde. Weil ich zu dieser Zeit regelmäßig einen Staatssekretär traf (denn unsere beiden Söhne kamen regelmäßig zusammen, um mit großer Begeisterung das Mafia-Computerspiel zu spielen), hatte ich Gelegenheit, mir von ihm das Innenleben des Wirtschaftsministeriums erklären zu lassen – wofür er schon deswegen prädestiniert war, weil er seit den frühen 80er unter Wirtschaftsministern jedweder Couleur gedient hatte. Auf meine Frage, ob es in der christ-, später sozialdemokratisch geführten Bundesregierung je eine Diskussion gegeben habe, ob es sinnvoll gewesen sei, Staatsvermögen in die Hände von Gestalten wie Ron Sommer zu geben, lautete seine Antwort: Nein, es habe eine solche Diskussion nicht gegeben. Ganz im Gegenteil. Man habe sich auf diese Weise aller obrigkeitstaatlichen Lasten enthoben gefühlt – so modern, progressiv und zeitgeistgemäß, wie es die New Labour Bewegung unter Tony Blair in England vorgemacht hatte. Endlich frei!
Nun hätte schon die Dotcom-Blase jedem aufmerksamen Zeitgenossen klar machen können, in welchem Maße sich die herrschenden Klassen einer psychischen Inflation anheimgegeben hatten. Anstatt sich jedoch über die digitale verwandelte Gedankenlandschaft den Kopf zu zerbrechen und die Frage zu stellen, was genau die New Economy für die Institutionen bedeutete, ließ man die Musik spielen – und erfreute sich all der wunderbaren Gewinne, die, quasi aus dem Nichts, auf die Köpfe derjenigen hinabregneten, die im Bullshit-Bingo die entsprechenden Zauberworte aufzusagen vermochten. Und weil dabei auch die weniger Begabten auf einen ›Dummenbonus‹ rechnen konnten, war die Zustimmung überwältigend.2 Welche sonderbaren Züge der neoliberale Zeitgeist annehmen konnte, wurde mir deutlich über eine Erzählung, die mir ein anderer Bekannter zugetragen hatte. Ihm war als Projektleiter die Aufgabe anvertraut worden, das deutsche Börsensystem zu erneuern – oder eigentlich: es Zeile für Zeile neu zu programmieren. Und weil es bei diesem Unterfangen um Geschwindigkeit ging, hatten seine Programmierer monatelang jede einzelne Codezeile auf Performanz hin untersucht – und ein System geschaffen, mit dem sich die Börse, JAVA-gestützt, auf das neue Jahrtausend würde einlassen können. Um das gebührend zu feiern, hatte man die Banker und die Programmierer in einem der Frankfurter Bankentürme zu einer Feier versammelt. Nun wäre dies eine Gelegenheit gewesen, nicht nur den Abschluss des Projekts zu feiern, sondern auch das Weltbild der anderen Seite zu erforschen, jedoch hatten diese beiden Stämme sich nicht das Mindeste zu sagen. Also blieb man unter sich. Und während die einen den Abschluss ihres Programms feierten, konnten sich die anderen ihren Master of the Universe-Träumen hingeben – Selbstermächtigungsphantasien, die sich sogleich einen körperlichen Ausdruck verschaffen mussten. Denn auf dem Höhepunkt dieser traurigen Feier, so erzählte mir der Bekannte entgeistert, seien die Banker dazu übergegangen, das Öffnen ihrer Champagnerflaschen so zu gestalten, dass sie mit den Korken auf die Passanten gezielt hatten, viele, viele Stockwerke unter ihnen. Weil ich mich zu dieser Zeit mit melanesischen Cargokulten beschäftigt hatte, kam mir eine absurde Geschichte aus dem II. Weltkrieg in den Sinn. Da waren die Amerikaner irgendwo in Melanesien gelandet und hatten es urplötzlich mit einer neolithischen Stammesgesellschaft zu tun. Aber weil man nett und gastfreundlich sein wollte, lud man die Eingeboren zu einem Rundflug über die Insel ein. Als der Tag gekommen war, mussten die Amerikaner mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Gäste mit einer Reihe schwerer Säcke zum Rundflug erschienen. Wozu diese gedacht waren, erschloss sich erst, als man über die Siedlung eines Nachbarstamms hinwegflog – denn die eingeborenen Aero-Touristen begannen, durch die offenen Türen des Transportflugzeugs heraus, die Häuser ihrer Nachbarn mit Steinen zu bewerfen. Und weil mir bei der Erzählung meines Bekannten diese Geschichte in den Sinn geriet, brach ich in ein lautes Gelächter aus – tauchte es doch das Gebaren der Champagner-Korken schießenden Börsenhändler in ein neues, neolithisches Licht. Allerdings sollte es noch bis zur Finanzkrise von 2008/2009 dauern, bis aller Welt klar wurde, dass die Masters of the Universe in Wahrheit vor allem ihren eigenen Phantasmen aufgesessen waren. Denn während der Chef der Federal Reserve, Alan Greenspan, noch behauptet hatte, dass die Risikoabsicherungen so komplex seien, dass nur ein Quantenmechaniker sie würde entschlüsseln könnte, machte der Crash deutlich, dass die Wölfe der Wall Street einem digitalen Cargo-Kult gehuldigt hatten, ja, dass ihre sekurisierten Kredite nicht einmal das Papier wert waren, auf das man sie gedruckt hatte. Ärger noch: Der Ausgang der Krise machte deutlich, dass das ganze Gerede von der Weisheit der Märkte heiße Luft geblieben war – hatten sich die Banker am Ende doch darauf verständigt, sich mit Fanny Mae und Freddy Mac auf staatsabgesicherte Fonds zu verlassen. Womit die Geschichte des Neoliberalismus, abermals, auf einen Vertrag zu Lasten Dritter hinausläuft – all derjenigen nämlich, die für das Gebaren der Piraten ihren Obolus zu entrichten hatten.
Mag diese Erzählung in der einen oder anderen Form längst Gemeingut geworden sein, so liegt die Beziehung, die zwischen woker Identitätspolitik und Neoliberalismus besteht, noch nicht auf der Hand. Geht man indessen an ihre Anfänge zurück – und begreift den Neoliberalismus als eine Form der genussvoll organisierten Verantwortungslosigkeit –, werden die Bezüge deutlicher. Wenn der Neoliberalismus sich zuallererst gegen den Vater Staat wandte, richtet sich die Identitätspolitik gegen ein patriarchales, als toxisch verunglimpftes System. Es ist kein Zufall, dass Michel Foucault (der sich als erster Philosoph dem Neoliberalismus zugewandt hat) zum Hauptsouffleur des woken Denkens geworden ist. Allerdings kommt es hier zu einer Invertierung. Denn während der Neoliberalismus eine Apotheose des Marktes und des homo oeconomicus angestimmt hat (eine Art Geiz ist geil-Fanfare), setzt die Identitätspolitik alles daran, den eigenen Opferstatus gewinnbringend zu vermarkten. Das ideologische Werkzeug, das sich hierfür als besonders geeignet erwiesen hat, ist die Zugehörigkeitserklärung zu einer diskriminierten Minderheit. Damit kann man ein historisches Unrecht für sich reklamieren, lassen sich daraus Kompensations- und Wiedergutmachungforderungen ableiten. Es ist evident, dass es hier nicht um Fragen der Selbstreflexion geht, sondern um das, was Bourdieu eine Prestigewährung genannt hat – nur dass diese beim Eintritt in die moralische Ökonomie ihre Form und Gestalt gewandelt hat: von der Luxus-Handtasche zum Opfernarrativ. Wenn Yascha Mounk hier von einem strategischen Essentialismus gesprochen hat, so ist dies eine höfliche Umschreibung dafür, dass es bei dieser Kriegsführung um eine Form der moralischen Schutzgelderpressung geht. Und weil man sich dabei der sozialen Medien (und ihrer Skalierungslogik) bedient, kann man der eigenen Forderung den entsprechenden Nachdruck verleihen. In diesem Sinne ist die lived experience eigentlich gegenstandslos. Sehr viel passender wäre es wohl, daran zu erinnern, dass der Begriffs des ›Charakters‹ in der Antike den Prägestempel bezeichnet hat, den die Polis für ihre Münzen benutzt hat. In jedem Fall geht die Frage einer wie immer gearteten Identität an der Sache vorbei. Werden identitätspolitische Fragen verhandelt, hat man es mit Charaktermasken zu tun, deren eigentlicher Wert darin besteht, das zugrundeliegende Interesse in einer Wolke moralischer Rechtschaffenheit zu cachieren. Wie die neoliberalen Finanziers sich anheischig machten, sich die Assets der Volkswirtschaften anzueignen, sind ihre woken Nachfolger nun damit beschäftigt, den präsumtiven Opferstatus in klingende Münze zu verwandeln. Wie die Finanziers bedient man sich dabei der digitalen Infrastruktur. Denn mithilfe der sozialen Medien können, wie die Transsexuellen-Aktivisten uns vorgeführt haben, Klein- oder Kleinstgruppen einen enormen Einfluss erringen. Dies vor Augen, entpuppt sich das ganze Gerede von der Zivilgesellschaft als dünne Firnis, welche den Einfluss höchst fragwürdiger Vorfeldorganisationen verdeckt. Denn wenn man in der moralischen Ökonomie vor allem Reinheit, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit ins Feld führt, geht es nicht um die Rettung die Welt, sondern um die Verteilung staatlicher Pfründe. In welchem Maße das woke Denken sich des politischen Diskurses bemächtigt hat, wird deutlich an dem Selbstidentifikationsgesetz, das unsere Regierung auf den Weg gebracht hat. Dass sich ein Mensch, seiner lived experience folgend, diesem oder jenem Lebens- oder Geschlechtsmodell verschreiben mag, mag, der Logik des Liberalismus folgend, durchaus nachvollziehbar sein – wissen wir doch, dass der Wille des Menschen sein Himmelreich ist. Ganz anders sieht dies aus, wenn eine solche Selbsterklärung Gesetzeskraft annimmt – und nunmehr dazu genutzt werden, all diejenigen, die dem nicht zu folgen gewillt sind, die Härte des Gesetzes spüren zu lassen – und zwar ohne dabei selbst in Aktion treten zu müssen. Wenn Christopher Lasch (in seiner großartigen Culture of Narcissm) den Ruf nach dem strafenden Staat als Ausdruck eines inneren Vakuums gedeutet hat, so ist klar, dass dieser strafende Vatergott nicht mit der Verunglimpfung des des Staates zusammengehen will, der als schlichtweg toxisches, rassistisches, kolonialistisches System gebrandmarkt wird. Wenn diese (eigentlich himmelschreiende) kognitive Dissonanz dennoch nicht als solche erlebt wird, so weil hier ein Privatisierungsakt vollzogen worden ist. Haben die Neoliberalen den Staat bekämpft, um am Ende doch – und zwar von Staats wegen - freigekauft und entschädigt zu werden, besteht die woke Privatisierungsmaßnahme darin, dass man den eigenen Privilegien Gesetzeskraft zuerkennt. Hat man ehedem das Lied der Systemrelevanz angestimmt (too big to fail), so speisen sich die moralischen Superlative Wokistans aus der lived experience (too moral to fail). Dabei muss man nicht weit schauen, um sich die Absurdität dieses Denkens vor Augen zu halten.
Ich sehe nicht aus wie Dieter Bohlen, ich singe und spreche nicht wie Dieter Bohlen, aber weil ich so fühle wie Dieter Bohlen, bin ich Dieter Bohlen – und wenn irgendwer das bezweifelt, dann wird er verklagt.
Dass dieser offenkundigen Absurdität zum Trotz das Selbstidentifikationsgesetz Gesetzeskraft hat annehmen können, bezeugt nur, wie weit sich der Ungeist Wokistans in die Diskurse hineingefressen hat. Strukturell betrachtet, ist der Einzelne, der sich zu diesem oder jenem erklärt, in die Rolle einer Zentralbank hineingerutscht, deren Emission als gültiges Zahlungsmittel kursiert. Aber genau darin – und nicht in der Exploration eines unerforschten Kontinents – liegt der Sinn der fiat-Identität. Sie ist, idealerweise mit einem Opferbonus garniert, eine Münze, mit der man sich in den Besitz von Privilegien bringen kann, die einem anderweitig verwehrt blieben. Wie hat Oscar Wilde seinen Sentimentalisten chartakterisiert?
Ein Sentimentalist ist einfach jemand, der den Luxus einer Emotion haben möchte, ohne dafür zu bezahlen.
Hier liegt die Gemeinsamkeit, welche Neoliberalismus und wokes Denken verbindet. Man drängelt sich vor – und nutzt dazu die Selbstvergrößerungswerkzeuge, welche unser digitales Zeitalter bereithält. Jedoch ist man nicht willens, den fälligen Eintrittspreis zu entrichten. Denn dieser bestünde darin (wie ich nicht müde werde zu betonen), dass man die Identität hinter sich lässt – und sich stattdessen darüber klar wird, dass der Prospekt der digital natives das Dividuum ist. In diesem Sinn ist das neoliberale Wokistan, so modern es sich auch immer gebärdet, zutiefst reaktionär, in einem solchen Maße sogar, dass selbst die reaktionärsten Konservativen dagegen blass ausschauen. Dabei besteht die größte Gefahr in der toxischen Mischung aus Geschichtsvergessenheit und blinder Nutzung der sozialen Medien. Wenn der Erzreaktionär Joseph de Maistre die rhetorische Frage gestellt hat, ob man sich etwas Furchterregenderes vorstellen könne als ein Kind, das mit übermenschlichen Kräften begabt sei, so hat er damit das Psychogramm des infantilisierten Diskurses geliefert.
Denn hat man das Identitätsphantasma mit der Potenz der sozialen Medien versehen, erscheinen Errungenschaften wie die Unschuldsvermutung, die freie Rede und die bürgerliche Zivilität wie Überreste einer verflossenen Zeit.
Die Frage ist bloß: Was würde wohl passieren, wenn das Werkzeug, das diese Selbstermächtigungsphantasie überhaupt erst ermöglicht, ausfiele? In diesem Kontext sollte man sich ins Gedächtnis rufen, was mit den neolithischen Luftraumtouristen Melanesiens geschah, nachdem die Amerikaner das Land verlassen hatten. Weil man einmal die Erfahrung gemacht hatte, wie es war, mit einem Flugzeug über die Gefilde der Nachbarn zu fliegen, hegte man fortan die verwegene Hoffnung, dass man die Außerirdischen, die doch so viele schöne Dinge mitgebracht hatte, würde anlocken können. Also legte man Landebahnen an und entzündete Feuer, welche die Signallichter nachahmen sollten. Und um einen Lotsen zu rekrutieren, setzte man einem der Eingeborenen einen hölzernen Kopfhörer auf und hieß ihn, den Kopf hin und herzubewegen. Und weil all dies nicht half, bekränzte man die Flugbahnen und schickte flammende Gebete gen Himmel, in der Hoffnung, dass die Außerirdischen sie erhören und zurückkommen würden. - Was die Anthropologen mit dem Begriff des Cargo-Kults belegt haben, drückt nichts anderes aus, als dass der Kontakt mit der Moderne nicht folgenlos bleibt – oder andersherum: dass die einzige Hoffnung ihrer Segnungen teilhaftig zu werden, darin besteht, dass man sich der fälligen Alphabetisierungsmaßnahme unterzieht. Genau diese Bereitschaft aber lässt das neoliberale Wokistan vermissen. Man möchte den Luxus, aber ist nicht bereit, den fälligen Preis dafür zu entrichten. Mag sein, dass die Champagnerkorken noch eine Zeit lang knallen, aber wenn sich die Intelligenz davon gemacht hat, dann wird es duster. Was hat man über den zusammenbrechenden Ostblock gesagt? Der letzte macht das Licht aus.
Ganz im Gegenteil. Liest man Friedrich von Hayeks „Entnationlisierung des Geldes“, das er im Anschluss an die Freigabe der Wechselkurse geschrieben hat, ist evident, dass die von ihm vorgeschlagene Ersetzung der Zentralbanken durch den Markt, d.h. durch Privatbanken, die grundlegende Frage keineswegs zu lösen vermochte. Denn begreift man das free floating als Übergang in ein postmaterielles, digitales Zeitalter, so belegt Hayeks Vorschlag, die Privatbanken mögen doch bitte goldgedeckte Währung emittieren, dass er keinerlei Bewusstsein für die eigentliche Zeitenwende besaß.
Um die Wortpräging des Dummenbonus zu verstehen, muss man sich nur daran erinnern, dass z.B. die Firma EM-TV, die über nicht viel mehr verfügte als die Filmrechte der Biene-Maja, in der Hochzeit der Dotcom-Bubble einen höheren Börsenwert besaß als die Lufthansa – mit ihrer Flotte von Flugzeugen, Dependencen und Tausenden von Mitarbeitern.