Weil die Frage des Geldes Martin schon in seinem ersten Buch, den Metamorphosen von Raum und Zeit, beschäftigt hat, ist es nicht verwunderlich, dass man es hier mit einem wiederkehrenden Motiv zu tun hat. Der folgende Text stammt aus der Zeit vor der großen Finanzkrise, aus dem Jahr 2005, und stellt eine gründliche Analyse des neoliberalen Denkens dar. Dass dieser Text bis heute – also gut zwei Jahrzehnte seit seiner Verfertigung - unveröffentlicht geblieben ist, macht klar, in welchem Maße man es hier mit einem blinden Fleck des Denkens zu tun hat, nein mehr noch, warum eine Katastrophe wie die große Finanzkrise 2008 überhaupt hat stattfinden können. Und weil hier der Bogen auch zu höchst zeitgenössischen Phänomen (wie etwa der Aufmerksamkeitsökonomie der Internetwelt) geschlagen ist, ist der Aufsatz nur unwesentlich gealtert - machen nur die Bezüge zu Figuren der Zeitgeschichte, wie Berlusconi oder Klaus Esser, klar, dass man hier einer Botschaft aus der Vergangenheit gegenübersteht.
Hopkins Stanley
Martin Burckhardt
Die Qualen des Limbotänzers
Über das Dilemma des Neoliberalismus
to be in limbo – etwa: in der Verhölle sein
Wie man weiß, ist der Limbotanz jenes Begräbnisritual der Sklaven, bei der es darum geht, sich unter eine bestimmte Messlatte hindurchzuschlängeln. Eine Unterbietungsstrategie, eine Form des Downsizing. Dabei ist der Körper selbst das Hindernis.
Eine der Merkwürdigkeiten der Gegenwart ist, dass man vom Neoliberalismus spricht, als handelte es sich tatsächlich um eine Theorie. Dass man dabei, in einem religiösen Register, von einer reinen Lehre spricht, gibt Anlass zur Schlussfolgerung, dass man hier in eher untiefe Gewässer hineingerät, einen Strom, der vor allem vom Lauf der Dinge genährt wird, selbst aber nicht gerade ein Quell der Erkenntnis ist. Kurzum: wenn der Neoliberalismus eines ist, so eine Religion der Macher und Praktiker, all derjenigen, die der Theoriebildung ansonsten eher unverdächtig sind. Dass ihm dennoch die Ehre zuteil geworden ist, als eine solche zu gelten, ist also eher als Indiz dafür zu lesen, dass der politische Diskurs sich vom Lauf der Dinge gelöst hat. Nur deswegen kann die Akklamation des Tatsächlichen schon als Theorie gelten. Könnte man mit dem Stoizismus eines antiken Denkers auf die Gegenwart schauen, so ließe sich vielleicht sagen, dass die historische Mission des Neonliberalismus weniger in der Neuordnung als in der Schleifung unserer herrschenden Institutionen besteht. Der Neoliberalismus nimmt die Funktion eines demolition man ein, einer nihilistischen Instanz, die, wie Nietzsche es formuliert hat, das Fallende stößt. Diese eigentlich nihilistische Tendenz ist bemerkenswert, besagt sie doch, dass die nationalstaatliche Organisationsform per se träge und unwirtschaftlich sind. Nicht zufällig stellt diese Überzeugung das Credo aller Neoliberalen dar. So ist die Monstrosität des real existierenden Staates, den man als Konkursfall zu geißeln nicht müde wird, ein unerschöpflicher Quell, der neoliberales Ressentiments und neoliberale Gemeinschaftsbildung gleichermaßen fördert, in einem Maße, dass man sagen könnte: Gabe es diese Monstrosität nicht, so müsste man sie wohl eigens erfinden.
Dieser common sense indes ist als historisches Moment schon bemerkenswert. Wenn Lenin in der Deutschen Reichsbahn, die ihn aus seinem Schweizer Exil nach Russland zurückexpedierte, die Organisationsform entdeckte, nach deren Modell die revolutionäre Gesellschaft zu organisieren sei, so besagt dies nur, dass das Staatsunternehmen zu dieser Zeit die offenbar avancierteste Organisationsform darstellte. Nunmehr jedoch ist jede Form des Staatlichen unter Generalverdacht geraten, hat sich die Überzeugung breitgemacht, dass jedes Staatsunternehmen nur auf einen Moloch an Effizienz hinauslaufen kann. Diese Überzeugung – das ist das Pikante daran – nimmt nun die Träger des Staates keineswegs aus. Im Gegenteil: es sind insonderheit die systemisch denkenden Beamten gewesen, die im vergangenen Jahrzehnt die Privatisierung der letzten großen Staatsmaschinen forcierten. In diesem Sinne könnte man versucht sein zu behaupten, dass das neoliberale Denken keineswegs bloß das Geklapper der Lobbys und Wirtschaftsverbände ist, sondern dass es seinen Marsch durch die Institutionen angetreten hat.
Der Staat – modern gesprochen - hat aufgehört, eine Rolle als Provider spielen zu wollen. Privatisierung ist das Zauberwort. Allerdings kommt es dabei in der Realität zu merkwürdigen Mischformen. Folgte man der Orthodoxie (die es in dieser Form nirgendwo zu lesen gibt), wäre es logisch, die Staatsbetriebe nunmehr den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. Dies freilich ist, wie man sich erinnert, nicht geschehen. Mit dem Verweis auf die Sozialverpflichtung kam es zu jenen Hybrid- und Bastardformen wie etwa der Deutsche Telekom (die es ihrerseits, in einer lex Telekom, zu verfassungsmäßigen Ansprüchen gebracht hat – nämlich weisungsbefugt zu sein, aber weiterhin vom Staat alimentiert zu werden). De facto steht am Ende dieser Entstaatlichung keineswegs der freie Markt, sondern einige major companies, die sich in den Besitz staatlicher Produktionsmittel gebracht haben. So wiederholt sich, in gemäßigter Form, was im zerfallenden Kommunismus geschehen ist: die Privation staatlicher Produktionsmittel, allerdings unter Ausschluß der Öffentlichkeit und an den Gesetzen der Marktwirtschaft vorbei.
In der Anstalt
Dass der Neoliberalismus, ungeachtet seines brüchigen theoretischen Fundaments, zur vorherrschenden Denkschule hat werden können, hat zwei Gründe. Der erste, überaus naheliegende Grund ist das, was man den menschlichen Faktor nennen könnte: die gedankliche Trägheit, die das allgemeine Wohlbefinden in den Köpfen der Menschen hinterlässt. In diesem Sinn produziert die verwaltete Welt nicht nur Effizienz, sondern ein Surplus an Verwaltung, eine ebenso behäbige wie blindlaufende Betriebsamkeit, die sich als eine Form der institutionellen Melancholie deuten lässt. So ist sie man, neben der Verwaltung des Tagesgeschäfts, vor allem mit sich selbst und der eigenen Nabelschau beschäftigt. Keine öffentliche Anstalt mehr, in der die Insassen nicht unentwegt auf den Anstalt-Charakter des Instituts verweisen, wo sie darüber lamentieren, dass man es mit einer Geldvernichtungsmaschine, einem Irrenhaus etc. zu tun habe. – Dennoch ist diese Wasserkopflogik (mitsamt ihren bizarren Auswüchsen) keineswegs hinreichend, das Entstehen des Neoliberalismus zu erklären. Der sehr viel mächtigere Verbündete, ja, der eigentliche Motor der Ideologie ist die Technik selbst, genauer: der Digitalisungsschock, der die nationalstaatlichen Körperschaften heimgesucht und in ihrer beklagenswerten Rückständigkeit vorgeführt hat.1
Dieser Schock hat die Staaten in einem historischen Augenblick heimgesucht, da sie so gut wie unvorbereitet waren. Tatsächlich war das Musterbild der Leninschen Organisationsform, der effiziente Obrigkeitsstaat, schon längst Geschichte, war er einem Wohlfahrtsmodell gewichen, bei dem der Staat nurmehr in der Rolle einer nährenden Mutter und immerwährenden Stütze in Erscheinung trat. Vor diesem Hintergrund musste die Ratio der Maschine wie ein Antagonismus wirken: stand dem Wohlgefühl der sozialdemokratisch befriedeten Konsensgesellschaft die abstrakte, transhumane2 Rationalität der Maschine gegenüber. Die Reaktion, zu der man sich ermannen konnte, verriet wenig Sinn für den Wandel, dafür aber ein umso größeres Vertrauen in die Regelbarkeit der Welt. Hatte der Staat im Regelwerk des Wohlfahrtsstaates den menschlichen Faktor gehemmt (das kapitalistische Raubtier, die Übervorteilung der Schwächeren durch die Starken), so lag es nahe, diesem Bilde gemäß, nun auch die freie Entfaltung der Technik zu hemmen. Dass dies nur auf ein Don-Quixotte-Unterfangen hinauslaufen konnte, wird nun, da die Rede von sozialverträglichen Techniken, Technikfolgeabschätzungen etc. längst verstummt, zunehmend sichtbar. Dies aber besagt nichts anderes, als dass das geistige Virus, das sich mit dem Computer eingestellt hat, mächtiger noch ist als die menschliche Gier.
Privatisierung
Dass sich, in der globalisierten (also weltflüchtigen) Welt, das Betriebssystem der Gesellschaft umgestellt hat, ist eine Platitüde. Gleichwohl fehlt es noch immer an einer radikalen Beschreibung, worin denn genau diese Umstellung besteht – und wie sich die historische Zäsur zwischen dem Vorher und Nachher fassen ließe. In dieser Verlegenheit könnte ein kleines Denkexperiment weiterhelfen, bei dem man als Souffleur den Denker des Leviathan hinzuziehen könnte, Thomas Hobbes, der seinerseits den Systembruch der Neuzeit zum Mittelalter beschrieben hat. Naturphilosophie, so schreibt Hobbes, müsse man mit der Privation anheben lasse, also der Idee einer allgemeinen Weltzerstörung, alsdann könne man sich anschicken, die Welt in mechanischer Weise neu zusammenzusetzen. Auf die gleiche Weise könnte man sich, hypothetischerweise, anschicken, auch die Gesellschaft der Zukunft einem solchen zerstörerischen Neuschöpfungsakt zu unterziehen. Wie also wäre eine in Gedanken vollends zerstörte Gesellschaft neu aufzubauen? - Weil die Neuerfindung einer Institution leichter ist als ihre Reform, wäre man schnell mit der Antwort zur Hand. Mit schneller, aber sicherer Hand ließe sich das Bild eines digitalisierten Staates skizzieren. Schon der Anflug dieses Bildes macht den Sinn des Experiments klar. Denn mit seiner Hilfe lässt sich der Hiatus, damit aber auch das Potentialgefälle zwischen vordigitaler und digitaler Gesellschaft ausloten lässt.
Resultat eines solchen Denkspiels wäre die Einsicht, dass sich die Aufgaben, die in der Gegenwart anfallen, mit einem Bruchteil des jetzt tätigen Personals bewerkstelligen ließen. Der menschliche Faktor hätte sich aus der Staatsmaschine herauseskamotiert – und sie wäre, was sie bislang nur im metaphorischen Sinne war: Apparat und Verwaltungmaschine. Hätte man auf der einen Seite ein gigantisches Datenbank-Rhizom, gäbe es auf der anderen Seite eine kleine Schar Schriftgelehrter, deren Aufgabe darin bestünde, all jene unscharfen Fälle zu klären, die vom System selbst nicht beantwortet werden können. Wie auch immer diese Staatsmaschine aussähe, sie würde hervortreten lassen, was bislang, unter der Patina des Sozialen, verborgen wurde: dass, verglichen mit ihr, der realexistierende Staatsapparat ein Moloch der Ineffizienz, sinnloser Redundanz und gigantischer Reibungsverluste ist.
Mag es sich um ein reines Gedankenspiel handeln, so ist die Botschaft doch klar. Die Gesellschaft wäre mit jener Ratio konfrontiert, die im industriellen Sektor schon deutliche Spuren hinterlassen hat – und sie würde begreifen, dass diese Ratio sich nicht mehr einhegen lässt, sondern längst systemgefährendende Virulenz angenommen hat. In diesem Sinne ist der Hinweis auf Hobbes durchaus beabsichtigt. Denn der Hobbessche Leviathan, der homo artificialis, ist nach dem Bild eines Räderwerks gedacht. Darin besteht der Rahmenbruch, der ihn aus dem Denken der Scholastik herauslöst, so radikal, wie der Computer sich aus der Gegenwart herauslöst.
Symbolische Kriegsführung
Freilich: dass man das Politische nach der Logik des Computers strukturieren müsste, dass man also zu einer Politik der Maschine schreiten müsste, ist im politischen Diskurs noch nicht angekommen. Dies aber betrifft nicht nur die Politik allein. Tatsächlich bewegen sich auch die Nutznießer der Maschine keineswegs auf der Höhe der Ratio. – Nur ein kleines Schlaglicht: Die Deutsche Börse richtet eine Party aus zur Einweihung des neuen Systems, das sich in eine Hochgeschwindigkeitsmaschine verwandelt hat. Die Programmierer und Systemspezialisten sind anwesend, ebenso wie diverse Broker, Banker, diejenigen also, die das System künftig nutzen werden. Aber während die Schriftgelehrten des Systems unter sich bleiben, vertreiben sich die Banker damit die Zeit, mit Sektkorken auf die Menschen zu schießen, die dort unten, in der Straßenschlucht, durch die Dämmerung schreiten.
Hat man dies im Kopf, so verwundert es keineswegs, dass man, obschon Nutznießer eines avancierten Denkens, zu eher simplen Formeln Zuflucht nehmen kann. In diesem Sinn spornt die ausgebliebene Reflexion gerade zur symbolischen Kriegsführung an: mag man, in einer identifikatorischen Umarmung der Ratio, sich als Agent und Verursacher dieses Prozesses sehen. Psychologisch besehen gibt gerade das systemische Analphabetenwesen zu einer hemmungslosen Nutzung Anlass, lässt sich hier dem Anderen zufügen, was sich doch gegen einen selbst kehren könnte. In dieser Identifikation mit dem Feind liegt der Furor und die Rücksichtslosigkeit des neoliberaren Kreuzzugs: er führt die maschinelle Intelligenz nicht gegen sich selbst, sondern gegen die Anderen ins Feld.
Bedeutete dies zu Anfang dieses Prozesses vor allem eine Beschleunigung der Produktionseinheiten (immer größere Produktivität bei gleichzeitig schwindendem menschlichen Faktor), so bewirkt die Atopie des Netzes, dass sich nun auch die nationalstaatlichen Organisationen (die Standorte, wie man sagt) gegeneinander ins Feld führen lassen. In diesem Sinn wird der Weltbürger Geld zum Arbitragegewinner, lässt sich fortan nicht mehr bloß die Differenz von Maschine und Mensch, sondern auch die unterschiedlicher Sozialsysteme in geldwerten Vorteil ummünzen. Man kann sehen, dass sich der Antagonismus von Mensch und Maschine auf allen erdenklichen Ebenen wiederholt: hat man es zu Anfang mit einem Antagonismus der Produktion zu tun, erfasst er zunehmend immer größere Aggregate des Sozialen. Dies treibt merkwürdige Blüten. So kehren in den Wohlfahrtsstaaten des Nordens längst verloren geglaubte Arbeitsformen wieder, führt die Digitalisierung dazu, dass längst überwundene Fron- und Dienstmädchenarbeiten einen neuen Frühling erleben. Schlimmer als Ausbeutung, so lautet hier eine gern zitierte Formel, sei es: nicht ausgebeutet zu werden. Diese Formel freilich, die sich ins Menschlich-Allzumenschliche versteigt, überblendet indes, dass dieser Zustand nicht der Ewigkeit, sondern allein der Maschine zuzuschreiben ist: dass Arbeit nur deswegen ein Luxus ist, weil man des Menschen nicht mehr bedarf.
Weltbürger Geld
In einer Anspielung auf den Kantischen Gedanken lässt sich sagen, dass der uns umgebende Kapitalismus in offenbar weltbürgerlicher Absicht voranschreitet. Dennoch verdient festgehalten zu werden, dass dieser Absicht keinerlei Realität entspricht, dass es, der Weltbank zum Trotz, keine Instanz gibt, die dem praktizierenden Weltbürger nicht nur Rechte schenkt, sondern ihm auch gewisse Pflichten abverlangt. In diesem Sinne fällt das Weltbürgerliche allzu oft mit dem Weltflüchtigen zusammen, kann man sehen, dass das Kapital in offshore-Paradiesen verschwindet, in dunklen Quellen versickert oder mittels hochbeschleunigter Zirkulation seine Herkunft verschleiert. Die weltbürgerliche Absicht artikuliert sich also vor allem: als weltbürgerliches Dilemma. – Dennoch treffen die Auswüchse des Casino-Kapitalismus nicht den entscheidenden Punkt. Die sehr viel entscheidendere historische Zäsur (deren Folgewirkungen wir heute erst in ganzer Wucht realisieren) reicht lange zurück: in die Zeit der Jahre 1968-73. In dieser Zeit verabschiedeten sich die Industrienationen von der Golddeckung und gingen über zu jenem System des free floating, das unsere heutige Welt charakterisiert. Dass sich der Geldcharakter vom Ontischen löst (also nicht mehr an einer natürlichen Knappheit hängt), ist eine wesentliche Veränderung. Die zweite Veränderung ist die Tatsache, dass der nationalstaatliche Souverän auch das Recht aus der Hand gibt, über den Wert seiner Währung zu verfügen. Von nun an sind die Währung nicht mehr erste Ursache, sondern Symptome des Marktes, sind es die anonymen Spekulation, die über Wohl und Wehe eines solchen Zeichensystems befinden.
Wenn ein Geldtheoretiker, in Bezug auf das Zentralbankgeld gesagt hat3, Geld sei ein knappgehaltenes Nichts (was dem Staat die Rolle des Knapphaltenden zuschreibt), so lässt sich konstatieren, dass dies seit dem Ende von Bretton Woods schon nicht mehr, oder nur in deutlich verdünnter Form zutrifft. Aufgrund der Geldspekulation, der überbordenden Phantasien, können sich verschiedene Volkswirtschaften, mit dem Segen der internationalen Finanzwelt, reich rechnen – mit der Folge, dass auch die Zentralbanken versucht sind, Geld zu emittieren (das Japan der achtziger Jahre etwa ist ein solcher Fall). In dieser Situation wirken die beiden Veränderungen auf fatale Weise, zusammen. Insofern Geld nichts weiter ist als ein elektronisches Zeichen, kennt es, per se, keine Grenze, während andererseits die gesellschaftliche Instanz, die seine Wucherung zu kontrollieren hätte, ihrerseits durch die Finanzmärkte evaluiert wird und alles tut, um hier nicht ins Gerede zu kommen. So kommt es auf beiden Seiten zu einer - wenn man das einmal ironisch so nennen darf - win-win-Situation, deren Preis nichts anderes ist als die Verleugnung der Realität.4 Hier liegt der Grund für die Blasen, die delirierenden Hoffnungen, welche die Finanzmärkte heimgesucht haben. In der doppelten Abwesenheit von innerer und äußerer Grenze kehrt eine Energie zurück, die der Nationalstaat, als knapphaltender Monopolist, bislang für seine Zwecke genutzt hat: die transzendentale Verheißung, die religiöse Codierung des Geldes. Schon Plutarch weiß darum, dass jede natürliche Gier eine Sättigung findet, dass aber dem Geld eine Art Unersättlichkeit, eine Unendlichkeit innewohne. – Dieses entnationlisierte, frei flottierende Unendlichkeitsphantasma ist es, das in der Finanzwelt gezündet hat. Der kapitalistische Exzess der bubble economy ist vor allem ein monetärer Exzess: die Hoffnung auf eine phantastische Zeichenvermehrung. Dass hierbei die entstehende Internetwelt eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist keineswegs zufällig: trägt das digitale Zeichen doch selbst eine Art Unendlichkeitsphantasma in sich: x = xn.
Im Vakuum
Die entscheidende Frage, an der sich die Theoriefähigkeit des Neoliberalismus bemisst, berührt die Frage nach dem Wesen des Geldes, die, seit Hobbes, einhergeht mit der Frage nach seiner gesellschaftlichen Vermittlung. An dieser Stelle ist der Blick auf einen Nationalökonomen interessant, der sich im Zeitschatten von Bretton Woods dieser Problematik zugewandt hat. Die Rede ist von Friedrich von Hayek und einem kleinen Text, den er (in unmittelbarer Reaktion auf die Entscheidung, die Währungen flottieren zu lassen) Die Entnationalisierung des Geldes betitelt hat. Hayek stellt hier eine Grund- und Kinderfrage: wie kommt es überhaupt, dass sich der Souverän das Monopol auf das gesetzliche Zahlungsmittel hat sichern können? Nun wäre dies, historisch besehen, die Frage nach der ersten Zentralbank (der Bank of England) und nach dem Leviathan des Thomas Hobbes, aber Hayek begnügt sich damit festzuhalten, dass die Nationalstaaten ihr Privileg auf die gröbste Weise missbraucht hätten (indem sie die Notenbankpresse angeworfen und ihre eigene Bevölkerung in Inflation und Armut getrieben hätten). In diesem Sinne zielt seine Operation auf eine radikale Privatisierung des Geldes, soll der Markt richten, worin der Staat versagt hat. Die Frage, das ist Hayeks Verdienst, trifft zweifellos den Kern des Problems. Ob Hayeks Lösung allerdings theoriefähig ist, steht auf einem anderen Blatt. Sein Szenario geht, kurz gefasst, folgendermaßen. An Stelle des diskreditierten Staates sollen Privatbanken eine jeweilige Währung emittieren. Da sie zueinander in Konkurrenz stehen, sind sie interessiert, die Bonität ihrer Währung zu wahren – gibt es also, wozu die Nationalstaaten, nicht imstande waren: gutes, verlässliches Geld. Verrät dies ein gerüttelt Maß an Marktvertrauen, so weiß Hayek doch, als Nationalökonom, dass die entscheidende Frage eigentlich auf einer anderen Ebene liegt. Wie kann man das Publikum dazu bringen, einem Stück Papier eine realen Wert zu unterstellen, also der Privatbank jenen Glaubensvorschuss zu übertragen, der historisch dem Leviathan zugefallen war (der sich seinerseits, In God we trust, als Stellvertreter Gottes aufgespielt hatte)? In anderen Worten: Wie ist eine erfolgreiche Geldillusion in Szene zu setzen? An dieser Stelle vollzieht Hayek eine denkwürdige Volte. Haben sich die Nationalstaaten gerade dem reinen, elektrischen Zeichen überlassen, nimmt er nun seinerseits zum absoluten Dingwert Zuflucht. Ausgerechnett das Gold, dieser barbarische Rückstand (wie es John Maynard Keynes einmal genannt hat), soll die Deckung des Geldes – und damit die Geldillusion – bewerkstelligen.
Ergibt dies, auf der Ebene der Theoriebildung, einen gewissen Sinn (man enthebt sich der Problematik dessen, was man historisch die Geburt der Nation nennen kann), so ist die Hayeksche Lösung doch schon zu ihrer Zeit obsolet. Gold ist ein Metrum natürlicher Knappheit. In der Überflussgesellschaft indes gibt es keine Güterknappheit. Im Gegenteil: der Ausstoß der Waren, sofern sie digitalisiert sind, folgt der Logik der Hyperproduktion: x = xn.
L’imagination au pouvoir
Der Punkt, an dem Hayeksche Goldfetischismus versagt, ist die Tatsache, dass der Begriff des Wertes seine Form wandelt – dass er sich, wenn man so will, digitalisiert. In dieser Welt verstehen sich die Güter nicht mehr von selbst, sondern werden erst dadurch zu Gütern, dass sie aus der Bedeutungslosigkeit herausgehoben werden. Das industrielle Gut als solches ist Muster ohne Wert. Erst wenn ihm eine Art Phantasie eingehaucht wird, schreibt ihm der Konsument einen instrinischen Wert zu. Im Grund verschiebt sich die Wertzuschreibung von der produktiven zur komsumptiven Instanz. Wie aber kommt es zu einer Wert-Zuschreibung? Auch hier haben wir es mit einer Inversion zu. Richtet sich die Aufmerksamkeit des Konsumenten auf eine bestimmten Gegenstand (das Parfüm der Jennifer Lopez zum Beispiel), so ist nicht eigentlich diese oder jene Sinneserfahrung der Schlüsselreiz, sondern die Konsumption eines Namens, eines Logos, eines spezifischen, als auratisch erlebten Lebensentwurfs. Der Blindversuch, zu dem die Tester hier schreiten, sagt alles: Konsumiert ein Raucher mit verbundenen Augen diese oder jene Zigarette, verfügt er über einen durchaus ausdifferenzierten Sinnesapparat. Jedoch ist diese Sensibilität sogleich anästhesiert, wenn er sehen kann, welche Marke er sich gerade zuführt. – Dies vor Augen, versteht man die Kämpfe und Prozesse, mit denen die Wirtschaftsakteure einander überziehen, wenn es um brands, Markenrechte und Warenzeichen geht, sind es die Namen – und nicht die Güter oder die Produktionsanlagen -, welche den eigentlichen Wert verkörpern
Wenn der Neoliberalismus einen blinden Fleck hat, so liegt er in der Frage, was jener Motor ist, der das neue Betriebssystem antreibt? Ganz offenkundig hat man es mit einer durchsexualisierten, libidinös hochaufgeladenen Maschinerie zu tun. Wenn jede noch so lächerliche Büroklammer eines dekolletierten Frauenkörpers bedarf, ja, wenn man annehmen kann, dass das Speiseeis im Grunde nur eine Paraphrase einer Fellatio zu symbolisieren, so liegt der Schluß nahe, dass man es mit einer durchsexualisierten, libidinös aufgeladenen Maschinerie zu tun hat – dass die Decken nichts anderes ist als das Begehren des Konsumenten. Mag dies den Etagen der Finanzaristokratie durchaus anrüchig erscheinen, ist es doch eine Weisheit, die nun auch jeder Hinterwäldler skandiert: Sex sells. Nicht ganz zufällig erscheint unter diesem Gesichtspunkt, dass dem free floating des Geldes (historisch gesehen) die sexuelle Revolution zugehört.
Die Sexualisierung der Warenwelt freilich ist mehr als ein Werbetrick, sie affiziert – auf intime Weise – die Produktion selbst. Was auf der Seite des Konsumenten zum Fetisch werden soll, zum Substitut eines sexuellen Begehrens, folgt, auf der Seite des Produzenten, einem Fetischismus der Effizienz. Im Grunde entwickelt sich hier ein Wertbegriff zweiter Ordnung. Hier ist die Produktsmaschine umso wertvoller, je weiter sie sich vom menschlichen Faktor gelöst hat, je intensiver sie anderseits das Begehren des Konsumenten affiziert. In eine eindeutige Pose übersetzt, ließe sich sagen, dass das Ideal in einem Bild des Marktes besteht, der sich von einer Maschine penetrieren lässt (eine Art invertierter Gang bang mithin). Die moralische Empörung, die sich derzeit am Missverhältnis exorbitanter Gewinne und gleichzeitiger Massenentlassungen entzündet, belegt nur, wie sehr sich die Denkfigur der Wirtschaft bereits zu einem Fetischismus der Produktion gewandelt hat. Dass die Zurschaustellung dieses Fetischs auf Seiten der Shareholder zu Begeisterungsstürmen anstachelt, auf Seiten des Publikums das unheimliche Gefühl des Dehumanisierung hinterläßt, zeigt, in welchem Maße man es hier bereits mit einer Spaltung der moralischen Sphäre zu tun hat.
Kapital ist Kunst
Vor einiger Zeit machte das Wall Street Journal mit einer Inversion der Beuysschen Formel auf: Kapital ist Kunst. Dass dieser Augenblick kommen würde, war, nach dem Beuysschen Diktum, absehbar. Interessant freilich ist, welche Implikationen hier angerührt sind. Man könnte sagen, dass das neoliberale Denken hier das Inkommensurable in die Ökonomie eingeführt hat, also jene spekulative Seite, die jeder Analyst bemüht, wenn er die Steigerungen eines Aktienkurses mit der innewohnenden »Phantasie« begründet. Andererseits markiert diese Formel eine Problematik, die es in ihrer Binnenwirkung, zu untersuchen gilt. Wie wirkt eine solche Formel auf das Selbstbild der Akteuere zurück? Was bedeutet es in Hinsicht auf ihre Zusammenarbeit? Denn wenn man auf das Kunstparadigma anspielt, so löst man die ökonomische Entscheidung aus der Rationalität heraus, man supponiert eine unvergleichliche und unwiederholbare individuelle Markierung: das was man ehedem das Orginalgenie genannt hat. – Hat man vor Augen, dass wirtschaftliche Prozesse zutiefst verflochten sind, dass man es hier mit kollektiven Gebilden zu tun hat, mag der Verweis aufs Künstlerbildes schon verwundern. Andererseits macht es, in Anbetracht der Tatsache, dass die Güter – im Sinne ontischer, gebrauchsfähiger Dinge – gleichsam überflüssig geworden sind, durchaus Sinn. Wo die Ware nicht mehr Gegenstand, sondern Bild eines Gegenstandes ist (also Symbol), ist es naheliegend, im Meister der Produktion nicht den Handwerker, sondern den Bilder (Visionär, Gestalter etc.) zu sehen.
Ganz offenbar – sonst würde eine Zeitung nicht damit aufmachen - hat man es hier mit einem neuen Systemzwang zu tun. Der erfolgreiche Manager geriert sich nicht mehr als Diener des Marktes, eines wie auch immer definierten Gebrauchswertes, sondern als Visionär, als eine Art sozialer Landschaftsmaler. Das, was er produziert, steht von vorneherein im Inkommensurablen. So besehen ist durchaus verständlich, dass selbst in Zeiten sinkender Löhne das Management sich das Portefeuille vervielfachen muss – geht es doch darum, das eigentlich Inkommensurable zu verkörpern. Der Fall des Klaus Esser, der sich zugutehielt, in seiner kurzen Amtszeit den Wert der Mannesmann verdoppelt zu haben, belegt nur, wie sehr das Denken der Konzernführer bereits der abstrakten Außensicht (dem Symbol) verpflichtet ist, wie sehr andererseits das realistische Bild der eigenen Leistung einem Geniekult gewichen ist. Damit wiederholt die Wirtschaft, mit dramatischer Geste, was in der Kunst Geschichte ist: dass die Wirklichkeit, im Duchampschen Sinne, ein Readymade ist. Die Geste der Künstlers besteht darin, das industrielle Objekt aus dem Ensemble zu lösen – und es, mit einer kleinen Markierung, dem Publikum zu übergeben. Was im Denken eines Duchamp ein bewusster Akt ist, wird im Denken seiner Adepten zu einem narzisstischen Transsubstantiationswunder, kann man erleben, wie sich der Industriekapitän, durch die bloße Markierung, zum Originalgenie wandelt (um nun, seinerseits, die Strategien der Kunstvermarktung auf den eigenen Namen zu beziehen).
Glaubenskrise
Die zur Schau gestellte, vor allem ausgebeutete Kunstbegeisterung der Wirtschaftsakteure verhindert einen kühlen Blick auf den Hintergrund, vor dem sie sich so strahlend erhebt. Im Grunde ist die entscheidende Frage, was heutzutage eine Leistung ist; wie sich menschliche Arbeit in Hinsicht auf die abstrakte Produktivität der Maschine verhält. Hier ist ein Marxscher Gedanke erwähnenswert (den Marx seinerseits von einem Pionier der Ökonomie, Charles Babbage, geerbt hat): Mehrwert schafft nur der Mensch. Radikal ausgedrückt besagt dies: dass als menschliche Arbeit nur überleben kann, was nicht zu digitalisieren ist. Vor diesem Hintergrund sind die Heere der Arbeitslosen nicht nur Belege administrativer Fehlsteuerung, sie sind vor allem Symptom dafür, dass der Begriff der Arbeit selbst eine tiefe Wandlung erlebt. Dass man Arbeit, auch wenn sie devalorisiert, sinnlos und kontraproduktiv ist, zu bezuschussen bereit ist, zeigt, dass der Kapitalismus längst in jenes Register eingetreten ist, das man (handelte es sich um eine Religion) als religiöse Krise auffassen müsste.
So wie der Computer die Rückständigkeit der Staatsmaschine hervortreten lässt, so macht er klar, dass sich heutige Arbeitsverhältnisse nicht auf der Höhe der Zeit befinden. Produktive Arbeit lässt sich nicht mehr im Sinne eines physikalischen Arbeitsbegriffs (Kraft mal Weg pro Zeiteinheit) auffassen, ebenso wenig lässt es sich im Sinne der Psychophysik verrechnen: als Bereitschaft, so und so lange an dieser Stelle zu verharren. Sie ist im Gegenteil in der Einbildungskraft verortet, also im Vermögen, sich in die Logik eines Dinges zu versetzen und ihm eine zusätzliche Intelligenz einzubilden. Vor diesem Hintergrund wäre eine doppelte Bewegung nötig: eine vollkommene Neudefinition von Arbeit und Leistung, und eine Neujustierung der Bildungsbegriffs.
Terror der Quote
Wo das Quale der Leistung fragwürdig wird, ist der einzige Garant, der für die Bonität eines Gutes einsteht, seine massenhafte Komsumption, oder genauer: die Zurschaustellung dieser Konsumtion. Die Quote, als Indikator der Marktpenetration, ist mithin eine Art ultimatives Instrument, Mittel und Zweck gleichermaßen. Fungiert sie zum einen als Sonde, die ins Begehren des Konsumenten führt, stiftet sie dadurch, dass sie die Bonität dieses oder jenes Moments testiert, eine Gesellschaft der Konsumenten. Diese Bonität freilich hat ein neues, stochastisches Gesicht. Wenn wirtschaftlicher Erfolg, laut Keynes, darin besteht, dass man nicht die Schönheit trifft, sondern das, was die Masse für schön hält, so ist formuliert, was in der Dienstleistungsgesellschaft eher dunkel ausgedrückt ist: dass man dem Begehren der Masse dient. An dieser Stelle schlägt, was zunächst ein ökonomisches oder demoskopisches Instrument zu sein scheint, ins Politische um. Nicht bloß, dass die Quote dem Volkspädagogen vorhält, in welchem Maße er das Begehren der Masse kujoniert, sie lässt sich als darüber hinaus als eine Form der institutionalisierten Basisdemokratie auffassen. Hier liegt ihr impliziter politischer Anspruch. In gewisser Hinsicht wiederholt sich das Drama von Bretton Woods, verlangt der Markt, nun selbst darüber zu befinden, was und in welcher Form über seine Fernsehschirme flimmert. Wenn die Quote einen Feind hat, so hat er die Gestalt der alten Eliten, die das Monopol der Bildung beanspruchen. Im Grunde steht alles, was nicht mehrheitsfähig ist, unter Generalverdacht, ja, gilt alles, was sich der Abstimmung entzieht, im Grunde als elitär.
An dieser Stelle spätestens verwandelt sich das Instrument der Demoskopen zum Ideologem, verrät sich, dass man es mit einem politischen Kampfbegriff zu tun hat. Was aber wäre der Konflikt, der hier verhandelt wird? Was sich als Gegensatz von Markt und Staat artikuliert, geht tatsächlich viel tiefer: Es beschreibt den Antagonismus zwischen einem radikalen Populismus und der Logik der Repräsentation. Dabei trifft die Quote durchaus einen wunden Punkt. Joseph de Maistre hat das Dilemma der repräsentativen Demokratie präzise gefasst: das Volk nämlich, das herrsche, sei nicht dasselbe, das beherrscht wird. In der Tat ist die Herrschaftssprache der Repräsentation so komplex wie ein zentralperspektivisches Bild, das den Effekt von Unmittelbarkeit erzeugt, in Wahrheit jedoch einer komplexen Transformationsgrammatik folgt. In der Herrschaftssprache der Repräsentation gibt es nicht Unmittelbarkeit, nur ihren Schein. Eben dieser Herrschaftssprache gilt der Unmut des Neoliberalen. Der Populist verlangt Unmittelbarkeit – er verlangt, dass der Fernseher sein Instant Karma wird. Interessanterweise (das macht die Lage so unübersichtlich) finden sich auch im Staatsapparat kaum Instanzen mehr, die auf dem Sondercharakter der Repräsentation insistieren und unterstreichen, dass es hier um Probleme des Kultus geht, die keineswegs der Abstimmung überantwortet werden sollten. Wenn die Quote selbst dort, wo es keine ökonomische Notwendigkeit dafür gibt, das Regime übernommen hat, so ist dies Indikator dafür, wie tief sich das neoliberale Ideologem dem System selbst eingefressen hat. In diesem Sinne entspricht auch der populistische Widerstand (in Sinne der attac, aber auch der vielfältigen Rechtspopulismen) dem neoliberalen Denken - nicht in der Sache nach, aber doch in der Struktur. Verlierer, in jedem Falle, ist die Logik der Repräsentation, sind alle Instanzen und Institutionen, die durch eine Vergangenheit geschützt sind, die im Begriff ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen. Die Universität, die auf ihre Sozialverwertbarkeit abgefragt wird, die Künste, die auf ihren Dienstleistungs- und Unterhaltungswert untersucht werden, die allgemeine Übereinkunft schließlich, dass eine solche Evaluierung sinnvoll ist, all dies spricht die Sprache eines gleichermaßen begriffs- wie bewusstlosen Proletkults, dessen letzter Sinn in der Beseitigung der Differenz besteht: das Volk, das beherrscht, soll dasselbe sein, das herrscht. Die Quote, so besehen, stiftet den Markt, sie stiftet Gemeinschaft.
Logik der Selbstzerstörung
Wie fragil dieses Gebilde sind und wie wenig gesellschaftsfähig, ist leicht ersichtlich. In der Tat lebt die Quote nicht davor, dass sie der Gemeinschaft ein neues Bild ihrer selbst vermitteln kann, als vielmehr davon, dass sie einen moralischen Limbotanz vollführt. In diesem Sinn läuft ihr wirtschaftliches Kalkül auf eine Senkung der Schamzone hinaus. Ja, fast scheint es, als ob der einzige strategische Sinne dieser Inszenierung darin liegt, dass man sich, im Verbund mit der Masse und in einer Art coup d´etat, in den Besitz der Staatsmaschine zu bringen vermag. Das wäre das Modell Berlusconi: der Medienmogul, der seine politische Legitimation daraus zieht, der Masse zum Ausdruck verholfen zu haben. Mag dieser Provider die billigen Genüsse der Masse befriedigen, so fehlt der privatisierten Institution doch der lange Atem, den die Gesellschaft der Moderne benötigt. Dass die Digitalisierung der Kommunikationsmedien auf eine Zerschlagung der klassischen Institutionen hinausläuft, ist in der Tat ein Treppenwitz. Hält man sich vor Augen, dass Charles Babbage, der in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts einen Prototypen des Computers entwarf, am Verständnis seiner Umwelt scheiterte (und dass u. a. auch aus diesem Grund das 19. Jahrhundert die Universitäten ausbaute), so begreift man, dass das Prinzip des Öffentlich-Rechtlichen durchaus nicht einem caritativen Impuls, sondern einer Ratio der longue durée geschuldet ist. Der Terror der Quote mutet der Gesellschaft also eine Kurzweil zu, ein Aufmerksamkeitsfenster, das mit der Komplexitätshöhe des Denkens auch nicht in Ansätzen Schritt halten kann.
Entwertung der Werte
Im Innern der Wirtschaft wiederholt sich (mitsamt der drohenden Deflationsgefahr), was bereits in den 20er Jahren, mit dem Einbruch des Fließbandes, angelegt war. Der Fetisch der Effizienz (der zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit, den gesellschaftlichen Rahmen vernichtet) läuft auf eine Selbstvernichtung in Raten hinaus. Lässt sich der Preiskampf der Produzenten zu Anfang noch als Rationalisierungsmaßnahme übersetzen, als Einführung des neuen, digitalen Paradigmas, entledigen sie sich zunehmend alles Überflüssigen – was in diesem Falle nichts als der menschliche Faktor ist. Die Folge ist, dass auch der Markt für die immer billigeren, immer smarteren Güter verschwindet. Lebten wir noch in den Zeiten des geschlossenen Handelsstaates, hätte es die Bundesrepublik mit einer massiven Deflation zu tun, die auch unter den Produzenten Opfer einforderte. Dass man sich gleichwohl exorbitanter Gewinne erfreut, hat damit zu tun, dass man sich gewisser Standortvorteile (einer ausgezeichneten Infrastruktur, einer gewachsenen Industriekultur, hochgradiger Ausdifferenzierung etc.) erfreut. Deflation, in die Sprache der Humaniora übersetzt, besagt, dass die Produktionsmittel in den Kampf mit der menschlichen Arbeitskraft treten, dass sie gleichsam ins Leere hinein produzieren. Der industrielle Überfluss befriedigt nicht mehr, sondern evakuiert das Soziale.
Das institutionelle Nirwana
In gewisser Hinsicht könnte man den Neoliberalismus als jene Ideologie auffassen, die der Logik der Maschine souffliert. Hier, zweifellos, liegt sein kritischer Wert, zwingt er dazu, das bestehende Sozialsystem auf eine neue, digitale Ebene zu heben. Aber gerade weil die Kritik überaus berechtigt ist, weil die Rationalität der Maschine das Absurde des Sozialen hervortreten lässt, wird sie zum Einfallstor für einen fatalen gedanklichen und gesellschaftlichen Rückschritt. Dabei ist der blinde Fleck nichts anderes als die Tatsache, dass man sich, statt den Kulturschock in die Reflexion zu heben, ihn sich einverleibt – und, solcherart munitioniert, sich legitimiert fühlt, die Geister der Vergangenheit zu neuem Leben zu wecken. Die Idee der flachen Hierarchie, des schlanken Staats etc., ignoriert die Komplexitätshöhe, die sich in die existierenden Nationalstaaten eingeschrieben hat. Die vollkommene Abwesenheit einer Gesellschaftstheorie wird nirgendwo so sichtbar wie in der Problematik des Geldes, an der Hayek scheitert.
Hier artikuliert sich eine konzeptuelle Schizophrenie, die keineswegs aufgelöst ist, sondern im stets problematischen Verhältnis zum Staat fortwirkt. Fordert man einerseits eine vollständige Enthemmung der Produktion, so setzt man anderseits den Staat als Rahmengeber voraus und fordert, dass er für die Bonität seines Standortes einstehen kann (Infrastruktur, Bildung, Verbrechensbekämpfung). Dies aber ist eine Überspannung, die sich auf Dauer nicht durchhalten lässt. Die gleiche Instanz, die man auszuweiden sich anschickt, soll für die Bonität des Geldes einstehen. Dabei – und dieser Hinweis ist wesentlich – ist das neoliberale Denken schon lange nicht bloß in den Etagen der Wirtschaft zuhause. Tatsächlich hat es, als begriffsloser oder bloß modischer Pragmatismus, längst die politischen Parteien erfasst. Was man ihnen als Konturlosigkeit oder Ununterscheidbarkeit ankreidet, reflektiert im Grunde nur eine Verlegenheit, die Verlegenheit nämlich, sich in Ermangelung besserer Perspektiven den neoliberalen Ressentiments überlassen zu haben.
In gewisser Hinsicht wiederholt dieser Rationalisierungsschock eine Konstellation, die ich am Beispiel der Guillotine analysiert habe. Hatte das ancièn régime gut 1000 Henker (die freilich weitgehend untätig waren), führte die Einführung der Guillotine, die ihrerseits eine Art Arbeitsbegriff in das Gewerk einführte, vor, dass diese tausend Henker unter einer verdeckten Arbeitslosigkeit gelitten hat. Der Computer steht, als Messer der Rationalisierung, in eben dieser Tradition. Dass Arbeitsvorgänge, die ehedem hoch valorisiert waren, im Antlitz der Maschine eine massive Devalorisierung erleben, ist in diesem Sinne nicht der intrinsischen Logik des Staates, sondern der von außen kommenden Ratio zuzuschreiben.
Der Computer, führt, medial besehen, in jenen Bereich, wo Augen nicht mehr sehen und Ohren nicht mehr hören.
Es ist ein immer wiederholter, deswegen nicht ganz falscher Gemeinplatz, das staatlich emittierte Geld von solchen Wunschgebilden wie Aktien, Optionen, Futures etc. zu unterscheiden. Aus diesem Grunde kommt es zur Formulierung Zentralbankgeld, im Sinne der »eigentlichen, legitimen« Geldform.
Der Ökonom Wolgang Filc hat am Beispiel des HedgeFunds LTCM auf die fatate Rolle einiger Zentralbanken hingewiesen, die ihrerseits, anstatt an der Soldität ihres Institute zu bedacht sein, sich ins Getümmel der Spekulanten eingereiht haben.