Die Zeit vergeht – und plötzlich ist dieser Blog zwei Jahre alt geworden. Nun ist es (meiner Faszination für das Dogma der Unbefleckten Empfängnis zum Trotz) nicht so, dass man dazu kommt wie die Jungfrau zum Kind. Oder doch? In jedem Fall wohnt dem Zustandekommen dieses Blogs ein Anflug des ex nihilo inne, und dies mag erklären, warum ich keine fünf Minuten über den Titel habe nachdenken müssen. Dass hier etwas aus dem Nichts entstanden ist, ist insofern eine präzise Beschreibung, als mein persönliches Verhältnis zu den sozialen Medien von Anbeginn von einer gewissen Zurückhaltung geprägt war. Kein Twitter, kein Facebook, kein Instagram – nichts. Und dies nicht, weil ich der Meinung anhinge, dass man als digitale Unperson durch Abwesenheit glänzt, oder dass man, um authentisch zu bleiben, sich einem digitalen Detox unterziehen müsse. Ganz im Gegenteil. Ich würde mich jener Minderheit zurechnen, welche die digitale Transformation von Herzen begrüßt. Was jedoch den Austausch in der Klickökonomie anbelangt, scheint mir die Logik der Likes, Retweets und Erregungskurven eher - dezivilisierend. Oder wie Peter Thiel einmal treffend gesagt hat:
Wir haben von fliegenden Autos geträumt, aber bekommen haben wir 140 Zeichen.
Dass der ex nihilo Blog trotzdem das Licht der Welt erblickt hat, hat mit verschiedenen Dingen zu tun. Ein Punkt war gewiss, dass ich mich in der Covid-Zeit in eine nachgerade mönchische Klausur begeben und der Frage der Psychologie der Maschine zugewandt habe, jenem Projekt mithin, das als Buchreihe beim Matthes & Seitz Verlag erscheinen wird (und dessen erster Band: Über dem Luftmeer betitelt, bereits vorliegt).
Zwar hat die mönchische Einsamkeit ihre Vorzüge, gleichwohl ist sie doch kein Zustand, der endlos andauern sollte. Folglich machte sich beim Wiedereintritt in die Gegenwart das Gefühl bemerkbar, etwas gegen meine kultivierte Weltfremdheit unternehmen zu müssen. Warum also nicht sich eine kleine Resozialisierungsmaßnahme verordnen? Dass mein Blick dabei auf Substack fiel, hat damit zu tun, dass hier ein geistiges Ökosystem entstanden ist, das, anders als die sensationsheischenden Klickmaschinen der Aufmerksamkeitsökonomie, eine Umgebung ist, die dem Zeitmaß des Autors entspricht. Zudem man hat hier nicht mit Werbung, Clickbaits und irgendwelchen Popups zu kämpfen. Der zweite, sehr viel entscheidendere Punkt war, dass mit Hopkins Stanley ein Mensch in meinem Leben aufgetaucht war, der nach dem Hören eines einzigen Vortrags sein Ansinnen deutlich gemacht hatte, meinen rätselhaft anmutenden Gedankengängen bis zu ihren Anfängen nachzuspüren – und mehr noch: all dies ins Englische zu übersetzen. Und weil er mir eine Frage nach der anderen präsentierte, begann ich meine Festplatten nach jenen Texten zu durchsuchen, wo bestimmte Gedankenfiguren ihren Anfang genommen haben. Wenn ich beim Nachdenken über die jüngere Vergangenheit mir stets die Texte in Erinnerung gerufen habe, an denen ich zur fraglichen Zeit gearbeitet hatte, so war ich doch überaus zurückhaltend, was ihre tatsächliche Lektüre anbelangte. Folglich muteten die konkreten Dateien, die auf der Festplatte vor sich hindämmerten, wie versiegelte Orte an. In jedem Fall fühlte sich das Öffnen einer solchen, seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr geöffneten Datei an, als ob man in einen Tunnel eintritt, der einen in eine andere Epoche hinein beamt. Aber ist man dort angekommen, füllt sich der Raum zwischen den Wörtern mit Erinnerungen an, werden Gedanken, die sich später zu größeren Exkursionen ausgearbeitet hatten, in statu nascendi sichtbar. Genau diese Überraschung – und der Versuch, jene Wendepunkte meines Autorenlebens zu markieren, die mich vor langer Zeit schon haben anders abbiegen lassen – hat die Form einer kleinen Éducation sentimentale angenommen.
Mag man, wenn man über sich selber schreibt, der narzisstischen Verführung erliegen, war das Anliegen dieser kleinen Serie fast gegenteiliger Natur. Vor allem ging es darum, jene Bruchstellen hervortreten zu lassen, welche einen Dialog über all die Dinge ermöglichen, die weit über das individuelle Erleben und die persönliche Erfahrung hinausgehen. Und weil eines zum anderen führt, ertappt man sich beim Editieren einer Übersetzung dabei, den Text oder das entsprechende Buchkapitel in eine andere Form, in die Gestalt eines Audiostück oder einen Film verwandeln zu wollen. Play it again!
Und all dies zusammengenommen war der Impuls, der zu ex nihilo geführt hat. War ich mit Hopkins Stanley in einen langen Dialog eingetreten, kam ein Weiteres hinzu. Denn da Substack zur fraglichen Zeit Audio- und Videoaufnahmen integriert hatte, stellte sich die Frage: Warum nicht in ein Gespräch mit anderen Intellektuellen eintreten? Denn wenn der Corona-Lockdown eines bewirkt hat, so dass es jeden Zeitgenossen in die Welt der Zoom-Konferenzen und telematischen Gespräche eingeführt hat – was die Anbahnung einer solchen Unterhaltung, kommunikationstechnisch betrachtet, nachgerade zu einem Kinderspiel gemacht hat. In jedem Fall war mein Resozialisierungsprogramm damit perfekt – begann jene Gesprächsreihe, die unterdessen mehr als 60 Gespräche hinterlassen hat.
Sich mit den unterschiedlichsten Zeitgenossen (Philosophen, Theologen, Ernährungsspezialisten, Forstwirten, Sozialwissenschaftlern, Klimatologen, Ökonomen, Psychiatern, Politikern etc.) über drängende Fragen der Zeit auszutauschen, hat etwas durchaus Faszinierendes, nicht zuletzt deswegen, weil ein jeglicher Dialog bedeutet, dass man sich auf das Weltbild eines anderen einlässt – und die eigene Autorschaft in den Hintergrund treten lässt. Nun ist diese Zurückhaltung nicht bloß eine Form der Höflichkeit, sondern schließt jenen geistigen Raum auf, der in der Zeit der verkürzten Aufmerksamkeitsspannen, wie ich denke, Schaden genommen hat. Und damit stand der Anspruch im Raum, dass man einem solchen Gespräch auch in ein, zwei oder drei Jahren würde folgen können, ja, dass all diese Gespräche einen Thesaurus darstellen, der weit über die Gegenwart hinaus wirkt. Von daher war es eine Selbstverständlichkeit, der Produktion wie der Postproduktion die entsprechende Aufmerksamkeit zuzugestehen. Nun ist das Wunderbare daran, dass eine solche Mühe wie ein Brennglas wirkt, das einen tieferen Blick in die Welt des jeweiligen Gegenübers erlaubt – und andererseits dazu anregt, das eigene Gedankengebäude mit den Augen des anderen zu sehen.
Wohin all das führen soll? Nun ja, wie ein Kind entwickelt ein solches Projekt gewisse Eigenarten und beginnt, mit wachsender Freibeweglichkeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Folglich müssen wir gar nicht mehr tun, als jene Bahnen, die das Projekt eingeschlagen hat, weiter zu verfolgen. Dabei tritt eine Fragestellung, die in meinem Autorenleben stets eine große Rolle gespielt hat, immer deutlicher hervor. Denn ein solcher Blog, der Texte, Bilder, Audiostücke und Videos in sich vereint, bedeutet, dass die Medialität stets mitbedacht werden muss, umsomehr, als die Revolution der Künstlichen Intelligenz Ausdrucksformen mit sich bringt, von denen man bislang nicht einmal zu träumen gewagt hat.
Weil vieles von dem in ein gedankliches und ästhetisches Neuland hineinführt, haben wir schon früh mit verschiedensten Formen experimentiert - und diese Experimente, die vor allem großen Spaß machen, werden fortdauern. Was die inhaltliche Seite anbelangt, so sind die Gespräche insoweit ein guter Reiseführer, als sie die blinden Flecke und die unerledigten Fragen unserer Gegenwart hervortreten lassen. Ein Punkt, der angeklungen, aber noch nicht realisiert worden ist, ist eine Gesprächsreihe, die Hopkins und ich der Frage der Aufmerksamkeitsökonomie widmen werden. Wie das aussehen wird?
Lassen Sie sich überraschen.
sehr geehrter herr burckhardt,
darf man, als leser Ihrer bücher und hörer Ihrer gespräche, eine kleine kritische anmerkung zu den ex-nihilo-gesprächen machen? ich schätze diese sehr & v.a. die auswahl der gesprächspartner halte ich für ganz hervorragend. mir fällt jedoch immer wieder auf (nehmen wir etwa das gespräch mit paoli oder das mit esposito), dass Ihre methode, die gesprächspartner immer wieder mit vorformulierten & dabei hoch verdichteten eigenen thesen zu konfrontieren (es geht mir also um die form, nicht um die thesen oder die konfrontation), tendenziell zu schließung oder ausweichen oder knapper zustimmung führt & in solchen fällen nicht zu einem weiterspinnen des gemeinsamen garns - oder gar zu fruchtbarem widerspruch. die bereits erwähnte elena esposito hat in dem sehr aufschlussreichen dialog, den sie beide führten, hier allerdings gerade durch eine gewisse hartnäckigkeit bei der verfolgung ihrer eigenen themen und thesen für eine schöne komplementarität gesorgt - insofern passte es dann wieder ..
herzliche grüße aus dem novemberkalten süddeutschland