Unter Gespenstern
Warum man beim Blick in den Spiegel keine künstliche Intelligenz erwarten kann
Es ist wirklich so eine Sache mit den Gespenstern. Man weiß nie so recht, wo und wie man ihnen begegnet. Und wenn man, wie ich vor vielen, vielen Jahren, eine Einladung an die Bielefelder Universität annimmt, um vor lauter hochrangigen Juristen einen Vortrag über die Entstehung des Rechtssubjekts zu halten, kann man, dem Internet-Meme zufolge, nicht sicher sein, ob a) Bielefeld existiert, b) ob man sich nicht urplötzlich in der Zentrale des CIA, des Mossad oder überhaupt in einem außerirdischen Raumschiff wiederfindet. Oder wie der Dirigent des Panikorchesters dies in eine Songzeile übersetzt hat: Sehen wir uns nicht in dieser Welt, sehen wir uns in Bielefeld.
Nun war ich, in der Nähe von Bielefeld aufgewachsen, keineswegs geneigt, die Juristen, die sich in einem Seminarraum der Bielefelder Universität zusammengefunden hatten, für Außerirdische zu halten – auch wenn manches, was sie von sich gaben, Anlass für einen intellektuellen Tinnitus hätte geben können. Am kuriosesten jedoch war, dass die Referenten, die ihre Tagung unter den Titel des Soft Law gestellt hatten, den sprachlich höchst naheliegenden Bezug zur Software nicht zu sehen vermochten, sowenig wie sie sich den Kopf darüber zerbrachen, was GmbHs, die doch nur gegründet worden, um irgendwelche Geldbeträge auf ein Konto in einem Steuerparadies zu überweisen, mit zeitgemäßen Kommunikationstechniken zu tun haben konnten. Ganz im Gegenteil.
So flüchtete sich ein Referent, der diese Art der Fiktionsproduktion kommentierte, in ein Schulterzucken – und beschäftigte sich in der restlichen Zeit mit der Darstellung, wie er seine juristisch unbedarften Gegenüber zu beeindrucken wusste – was in eine langen Aufzählung seiner juristischen Folterwerkzeuge einmündete und mit einer solchen Inbrunst vortragen wurde, dass man in ihm den Wiedergänger eines Großinquisitors hätte mutmaßen können. Als ich meinerseits an der Reihe war und den Herren (es war tatsächlich keine einzige Frau darunter) auseinanderlegte, dass die von ihnen so hochgeschätzte juristische Person eine eindeutig christologische Herkunft hatte – und dass man sie über den Umweg des Fiskus in die Welt gesetzt hatte, war die Verwirrung groß, war urplötzlich ich das Gespenst, das die mit allen Wassern gewaschenen Herrschaften in kulturelle Untiefen hineinführte.
Dabei war die Geschichte höchst einfach erzählt. Weil die mittelalterlichen Feudalfürsten unter permanenter Geldnot litten, hatten sie ein hohes Interesse, ihre prekäre Einnahmesituation zu verbessern – umso mehr, als mit den sogenannten freien Reichsstädten die einzig solventen Akteure sich aus ihrer Tributpflicht herausgekauft hatten. Wovon man sich eine gewisse Hilfe versprach, war ein verbessertes Steuereintreiberwesen. Um das Ganzen mit einer höheren Weihe auszustatten, verfiel man auf die Christusanalogie. Denn so wie der König bereits als Stellvertreter Christi auf Erden herrschte, konnte man den Fiskus (der bislang nichts dargestellt hatte als ein Sack voller Gold – oder, je nachdem, eine zunehmende Leere) als metaphysische, allgegenwärtige Instanz präsentieren. Allgegenwärtig wie Christus und unsterblich zudem. Und weil die Juristen der Zeit höchst einfallsreich waren, verfielen sie auf einen eingängigen Slogan, mit dem die Zwei-Reiche-Lehre auf das Kürzeste sanktioniert war:
Quod non capit Christus, capit Fiscus. (Was Christus nicht schnappt, das schnappt der Fiskus.)
Tatsächlich erwies sich diese Gedankenfigur als so erfolgreich herausgestellt, dass die Rechtsgelehrten der Zeit daraus die Figur der juristischen Person ableiten konnten. Und weil diese sich mit den schwindenden Glaubensgewissheiten in der Welt eingehaust hatte, war, obschon diese Fiktion die Attribute des Herrn für sich verreinnahmt hatte, die Christusanalogie einfach verblasst – in einem solchen Maße, dass meine harmlose Einnerung daran sich anfühlte, als hätte ich gerade einen Toten aus seinem Grab hervorgezerrt. Andererseits bot die Weltläufigkeit, die sich mit dem Internet eingestellt hatte, eine wunderbares Exempel für die Modernität dieser Figur, ja, nachgerade ein Beweis dafür, dass der Bezug auf die christologische Allgegenwart eine hilfreich Gedankenstütze dargestellt hatte.
Als ich den Vortrag niedergeschrieben hatte, erschien mir die Gedankenführung von geradezu zwingender Logik, aber als ich ihn, in diesen Bielefelder Seminarraum teleportiert, vortrug, kam es mir vor, als schauten mich die Zuschauer an, als wäre gerade ein Geist, eine extraterrestrische Wesenheit in ihrer Mitte erschienen.
Auf eine merkwürdige Weise scheint mit dem, was man heutzutage als Künstliche Intelligenz tituliert, ein Gespenst in unserer Mitte angekommen zu sein – weswegen das Hauptbestreben der juristischischen Intelligentsia nun darin besteht, diesen unverhofften Konkurrenten einzuhegen. Diese Absicht jedenfalls scheint in dem Dokument, das die europäische Kommission unter dem Titel: Artificial Intelligence for Europe im Jahr 2018 veröffentlichte, deutlich auf, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ginge um nichts Geringeres als die Zähmung eines Monsters. Folglich erscheint der Gegenstand als eine gänzlich unzugehörige, fremde Instanz, gibt sich die Kommission auf die Frage What is artificial intelligence? selbst die entsprechende Antwort, also:
Artificial intelligence (AI) refers to systems that display intelligent behaviour by analysing their environment and taking actions – with some degree of autonomy – to achieve specific goals.
Was in dieser Anhäufung von Wieselwörtern untergegangen ist, ist zunächst einmal die Unterscheidung von maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz. Folglich mag der Leser den Eindruck gewinnen, dass ein derartiges Programm über einen Eigenwillen verfügt (ein gewisses Grad an Autonomie, wie der Text sagt) und dass diese Intelligenz, auf nachgerade wundersame Weise, von oben auf uns herabgekommen ist – als wäre das Raumschiff einer extraterristischen Intelligenz auf Erden gelandet. Nichts aber ist (wenn man mir den schrägen Komparativ gestattet) falscher als dies. Was in dieser Definition, genauer: in der Evokation von Intelligenz, Zielorientiertheit, Eigenwillen etc., unter den Tisch fällt, ist der Umstand, dass man immer nur mit Kondensaten menschlicher Intelligenz zu tun hat – und dass es gigantischer Datenkonvolute bedarf, um die Programme mit dem Anschein von Intelligenz zu versehen. Wenn ChatGPT, aber auch Zeichenprogramme wie Dall-E oder Midjourney, den Eindruck erwecken, dass man es mit einem intelligenten Gegenüber zu tun hat, so nur deswegen, dass man hier nur dem Spiegelung des eigenen Mittelmaßes begegnet, einem stochastischen Selbst, das schon aus diesem Grund über keinerlei Intelligenz verfügt. Oder wie schon Goethe dieses Missverständnis in ein paar Zeilen gefasst hat:
Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist,/ in dem die Zeiten sich bespiegeln.
Nun ist es zweifellos so, dass die Situation des Zauberlehrlings zum Fatum der digitalen Gesellschaft geworden ist: Die Geister, die ich rief, die werd ich nicht mehr los.
Schon aus diesem Grund aber ist es wesentlich, dass man hier keine juristischen Phantome in die Welt setzt, sondern sich über den epistemologischen Status, genauer: über den Spiegelcharakter dieser Programme klar wird. Tatsächlich hat man es hier ja nicht mit einer außerirdischen Wesenheit zu schaffen, sondern mit Gebilden, die dem eigenen Innern entspringen, und die schon aus diesem Grunde sich menschlich allzumenschlich gebärden. Von daher ist die vielfache Beschwerde darüber, dass ein Bot sich auf unflätige Weise gebärdet haben mag, nachgerade lächerlich. Garbage in, Garbage out. Weit problematischer ist, dass die Kommission, die sich anheischig macht, diese Wesenheit kommandieren zu wollen, mit ihrer Definition einen flagranten Analphebetismus unter Beweis stellt. Denn geht man über diese Spiegelungsproblematik hinweg, hat man auch jede Reflexion darüber beerdigt, welche Rückwirkung die Technik auf unser Selbstbild haben wird – weshalb hier ein kleines Video folgt.
Es ist evident: Wenn meine Gesichtszüge sich auf den Gesichtern der Avatare widerspiegeln, so deswegen, weil die Software meine Gesichtszüge in eine Serie von Muskelbewegungen übersetzt – und sich diese auf die Meta-Humans der Unreal Engine übertragen lassen. Gleichwohl wäre es irreführend, mein auf die Maschine projiziertes Mienenspiel als Darstellung intelligenten Verhaltens aufzufassen, geschweige denn, aus der menschenähnlichen Physiognomie irgendeine Form der Autonomie abzuleiten. Schon die Fokussierung auf Intelligenz, Autonomie oder zielgerichtetes Verhaltens ist deplatziert, dort jedenfalls, wo man aus dem Auge verliert, dass man es mit Machwerken zu tun hat, die auf einen menschlichen Urheber zurückgehen.
Wenn sich mit dem obigen Video, jenseits des Amüsements, ein Gefühl des Unheimlichen einschleicht, hat dies nicht mit irgendeiner Künstlichen Intelligenz zu tun, sondern mit der Tatsache, dass mit den obigen Gebilden soetwas wie eine neue Spezies in unsere Medienwelt hineingerät. Man mag diese Schattengebilde für lebende Tote halten oder für Zombies – mit dem Unterschied nur, dass man es hier nicht mit blutrünstigen Killern zu tun, sondern Symbolen. Genau an diesem Punkt geht das Papier der europäischen Kommission vollständig an der Sachlage vorbei. So wie ehedem sich die Gesichtszüge des Porträtierten einer Photoplatte einbrannten, kann nun das Mienenspiel eines Menschen – und mit ihm: all die unbewussten Signale, die sich darin artikulieren – in ein Programm eingebrannt werden, das eine beliebige Anzahl von Avataren kontrolliert (oder Meta-Humans, wie die Firma Unreal diese Gebilde getauft hat). Auf diese Weise kommt es zu einem Privationsvorgang, bei dem der Urheber die Kontrolle über sein Mienenspiel verliert – oder es seinerseits nutzen kann, um auf diese Weise seinen eigenen Avatar zu bespielen.
Nun ist dieses Moment des Gesichtsverlusts zwar unausweichlich, aber es hat nichts mit irgendeiner künstlichen Intelligenz zu schaffen. Vielmehr haben wir damit zu tun, dass unsere Selbstbilder (unsere Images) eine gewisse Eigendynamik entwickeln, ja, dass sie, einmal ins Museum der Arbeit eingespeist, anytime, anywhere ihre Wirkung zu entfalten vermögen. Im Grunde handelt es sich um nichts anderes als Abkömmlinge unserer Photographien, nur dass sie, digital dekonstruiert, jederzeit wiederbelebt werden und eine Medienpräsenz annehmen können. Die Politik des Dividuums aber wäre das Thema, mit dem man sich auseinandersetzen müsste. Belässt man es indes bei dem Versuch, das Monster der Künstlichen Intelligenz zu zähmen, so hat man das Thema verfehlt. Glatte Fünf, bitte setzen, die Herrschaften! Play it again – und ein bisschen mehr Intelligenz könnte nicht schaden.