Warum dieser Titel: Ex nihilo? Ginge es nach meinem Chirurgenfreund, wäre eine treffende Alternative Nachrichten aus dem Elfenbeinturm – was ich höchst amüsant finde, was aber in der ausgestellten Selbstironie das ernste Anliegen dieses Blogs unterlaufen hätte. Denn das Nichts, dem sich dieser Titel verdankt, ist Freiheits- und Zukunftsversprechen zugleich – und enthält alles, woran mir gelegen ist. Nun könnte ein advocatus diaboli einwenden, dass die Schöpfung aus dem Nichts nur die andere Seite des horror vacui ist – dass man es mit einer zutiefst ambivalenten Gedankenfigur zu tun hat. Und es stimmt: Beides gehört zusammen – so wie Bild und Zahl die beiden Seiten der Münze darstellen. Was für den einen ein Freiheitsversprechen ist, mag dem anderen eine Schreckvorstellung sein. Tatsächlich waltet hier eine Dialektik. Denn nimmt man die Leere nicht in den Blick, kehrt sie in der Gestalt des Nihilismus zurück. Und weil dieser sich in der Regel nicht als solcher begreift, kann er die Gestalt eines überragenden Glaubenssystems annehmen, einer Leere, in deren Innern ein horrr vacui pulst. Von G.K. Chesterton (oder genauer: von seinem belgischen Übersetzer, der der Formulierung den entscheidenden Schliff verliehen hat) stammt die schöne Bemerkung:
When people stop believing in God, they don’t believe in nothing — they believe in anything. (G. K. Chesterton)
Dass man jeden beliebigen Scheiß glaubt, ja, diesen Glauben mit Inbrunst verteidigt, folgt demgemäß keinem religiösen Impuls, sondern lässt sich als ein Form der verdrängten Leere begreifen. Und diese wiederum kehrt in Gestalt einer diesseitigen Apokalypsebegeisterung zurück – einer Zerstörungsphantasie, bei der sich der Untergangsprophet Gottes wie der Realität gleichermaßen entledigt.
Mich jedoch interessiert nicht, wie die Dinge sein sollten, sondern wie sie tatsächlich sind – und in diesem Kontext erzählt der erste Teil meiner Psychologie der Maschine (das Projekt, das mich die letzten 2 ½ Jahre beschäftigt hat) von einer solchen ex-nihilo-Schöpfung, davon, dass sich die Moderne dem Geist des Vakuums verdankt.1 In diesem Sinn ist das Nichts, das man nicht wahrnehmen will, eine Form des Verdrängten, ein Wiederholungszwang, der bewirkt, dass man nicht mehr der Vernunft, sondern nur ihren Ungeheuern begegnet. Oder wie Nietzsche dies in schöner Kürze beschrieben hat: »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Tritt man hingegen beiseite und verlagert man die Frage ein wenig, hin zur Art und Weise der ex-nihilo-Schöpfung, tritt ein ganz anderes Moment zutage. Man redet hier nicht mehr nicht von den Verheißungen und den Schrecken des unbeschriebenen Papiers, sondern vom Schreiben – und der Frage, wie man heutzutage einem Gedanken die richtige Gestalt verleiht. In diesem Sinn ist dieser Blog auch ein Nachdenken über das eigene Schreiben, die Schrift und die Zeichen der Zeit. Nicht bloß, dass sich die Nihilismus-Problematik in Wohlgefallen auflöst, vor allem wird sie adressierbar als etwas, was mit der Schöpfung, der Produktionsweise und der digitalen Traumfabrik unserer Tage zu tun hat – eine Welt, die der Autor dieser Zeilen zutiefst bejaht. In diesem Sinn ist die creatio ex nihilo eine Metapher für die Einbildungskraft, eine Erinnerung daran, dass jedes Gelingen auf Geistesgegenwart, Welt- und Zukunftsbejahung fußt.
1 Der erste Teil dieser auf mehrere Bände angelegten Psychologie der Maschine trägt den Titel Über dem Luftmeer und wird im Matthes & Seitz-Verlag im Mai 2023 erscheinen.