Dieses kleine Kapitel aus der 2018 erschienenen “Kurzen Geschichte der Digitalisierung” beschreibt eine in Vergessenheit geratene Revolution - und ist damit der Prätext für ein nachfolgendes Video, das sich mit der 68er Revolution beschäftigt.
Am 9. Dezember 1968 fand, vor den Augen einer tausendköpfigen Zuschauerschar im Convention Center in San Francisco, eine Vorführung statt, die vielen Anwesenden als Zeitreise erschien, ja, die ein Schriftsteller als »das nächste große Ding nach LSD« bezeichnete. Der weitgehend unbekannte Vortragende Douglas C. Engelbart übertraf alles, was sich die Computerspezialisten in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatten. In seiner neunzigminütigen Live-Demonstration präsentierte Engelbart nicht nur die erste Computermaus, sondern einen Hypertext-Editor, der neben einer grafischen Oberfläche (mit verschiedenen Views) ein kollaboratives Arbeiten an Dokumenten ermöglichte. Es folgten: E-Mails mit Verlinkungsfunktion, statistische Plots, expandierbare und komprimierbare Fenster, Schlüsselwort-Suche und Makros, eine Meta-Programmiersprache, schließlich ein Online-Wissensrepositorium, das als Wiki diente und in Echtzeit und von verschiedenen Orten aus zu bearbeiten war. Auf einer zehn Meter breiten Videoprojektionsfläche konnten die Zuschauer verfolgen, wie ein Mitarbeiter im fünfzig Kilometer entfernten Menlo Park über Headset mit Engelbart kommunizierte und gemeinsam einen Datensatz bearbeitete – während sein Gesichtsausdruck sich auf dem Bildschirm widerspiegelte. Auf das Publikum wirkte die Präsentation wie eine Levitation. Kaum dass Engelbart geendet hatte, erhoben sich alle von den Sitzen und klatschten frenetisch – als ob die Halle selbst aus den Angeln gehoben wäre und sich in die Lüfte erhöbe.
Wenn wir unsere Geschichte rekapitulieren, die sich bis hierher über zwei Jahrhunderte erstreckt und im Großen und Ganzen eher bedächtig vorangeschritten ist, stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass sich binnen eines Jahrzehnts eine solche Beschleunigung ereignen konnte? Nun fällt ein Mann wie Douglas Engelbart nicht vom Himmel, sondern ist, wie wir sehen werden, tief in die Gedankenfiguren seiner Vorgänger verstrickt. Die Geschichte beginnt damit, dass sich der Held der folgenden Seiten auf einem Kriegsschiff befindet, das auslaufen soll. Noch im Hafen von San Francisco erfährt die Mannschaft, dass Japan – als Reaktion auf den zweiten Atombombenabwurf – kapituliert hat. Natürlich verlangt man lautstark, dass man umkehren möge, aber umsonst. Das Schiff sticht in See und legt ein paar Tage später an einer philippinischen Insel an. Und weil der Krieg vorbei ist, hat der junge Radartechniker Douglas Engelbart Muße, in all den Büchern zu stöbern, die dort in der Bibliothek des Roten Kreuzes aufgebahrt sind. Wobei das Wort »Bibliothek« ein bisschen hochgegriffen ist, handelt es sich doch nur um eine kleine Bambushütte auf Stelzen, kaum mehr als drei Meter im Durchmesser breit. Aber weil sich kein anderer G.I. hierhin verirrt, kann sich der junge Soldat aus dem überschaubaren Angebot frei bedienen. Und so stößt er in einer Ausgabe des Atlantic Monthly auf einen Text mit dem Titel »As We May Think« – Wie wir einmal denken werden.
Haben wir davon nicht schon gehört? Ja, das ist genau der Text, in dem Vannevar Bush seine Vision eines Desktop-Computers entwirft, jener gigantischen Wissensmaschine, mit der man binnen Sekunden Texte auffinden, explorieren und verknüpfen kann. Dieses Gedankenfluggerät brennt sich dem jungen Mann unauslöschlich ein.
Allerdings zündet die Erfahrung erst ein paar Jahre später, als sich Engelbart, frisch verlobt, auf den Weg zur Arbeit macht. Plötzlich nämlich steht ihm die schockhafte Einsicht vor Augen, dass ihm mit der Verlobung sein Ziel abhandengekommen ist, während ihm andererseits noch eine halbe Million Arbeitsminuten bevorstehen. Was also tun? Da ihm Geldverdienen als Lebenszweck zu unbedeutend erscheint, fragt er sich, mit welcher Tätigkeit er der Menschheit den größten Dienst erweisen könne. Hat Vannevar Bush gelehrt, dass die Probleme der Welt immer komplexer und dringlicher werden, kann die Lösung nicht darin bestehen, dem Weltwissen ein weiteres Bruchstück hinzuzufügen. Nein, es gilt, Mittel und Wege zu finden, um sich in dem unüberschaubar gewordenen Wissenschaos orientieren zu können. Mit dieser Erkenntnis schlägt die Lektüreerinnerung erneut in seinem Kopf ein – nur dass ihm jetzt klar wird, dass Vannevar Bushs Wissensmaschine kein analoges Gerät, sondern ein Computer sein wird, oder genauer: ein Computer, dem man eine visuelle Oberfläche verpasst hat. Auf dieser Oberfläche wird man Informationen nicht bloß darstellen können, nein, man wird mit Hilfe des Computers durch die Informationen hindurchfliegen können – so wie die Fluglotsen mit Hilfe des Radars den Piloten Anweisungen für ihre weitere Route geben. Dazu aber gilt es, das Wissen der Welt als einen Raum zu denken, den man (von einem digitalen Verkehrsleitsystem geleitet) als Infonaut wird durchkreuzen können.
Die Vision stand klar wie ein Stern vor seinem inneren Auge. Von nun an war jeder seiner Schritte diesem Ziel untergeordnet. Zunächst einmal ging es darum, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihn mit Computern vertraut machen würde. Weil er gehört hatte, dass die Universität von Berkeley einen Rechner bekommen sollte, schrieb er sich dort im Studiengang Elektrotechnik ein. Aber als er in seiner Naivität den Kollegen von seinen Plänen erzählte, waren diese alles andere als entzückt. Schon der Gedanke, dass man einen Menschen nach Belieben mit einem Computer interagieren lassen, ja, dass man selbigen zu einem Trainingsgerät für Schreibmaschinenkurse zweckentfremden sollte, grenzte an Blasphemie. Der junge Forscher jedoch ließ sich nicht im mindesten von seinem Ziel ablenken. Er bewarb sich, als er seine Doktorarbeit beendet hatte, auf eine Stelle beim Stanford Research Institute, wo man wissenschaftliche, militärische und kommerzielle Anwendungsgebiete von Computern erforschen wollte. Nachdem er im Bewerbungsgespräch seine Vorstellungen ausgebreitet hatte, fragte der Interviewer ihn, wie vielen Menschen er von diesen Ideen erzählt hätte. Auf die Antwort, dass er der Erste sei, war der Interviewer beruhigt und riet ihm, dies auch in Zukunft zu unterlassen. Denn was er gesagt habe, sei so verrückt, dass jedermann nur an seinem Verstand zweifeln könne. Gleichwohl bekam er den Job – und war in den nächsten drei Jahren damit beschäftigt, seine Ideen in einem Papier darzulegen, das den Titel »Die Verbesserung des menschlichen Geistes« trug. Dass ihm die Universität, auf sein Drängen und mit Forschungsgeldern der Airforce, das erwünschte Institut bewilligte, war kein Zeichen besonderer Wertschätzung, eher ein Vermarktungsballon. Denn Engelbart blieb der einzige Mitarbeiter. Als sein Aufsatz im Oktober 1963 erschien, antwortete die Welt der Computerwissenschaft mit einem geradezu lärmenden Schweigen. Zwar waren hier all jene Dinge anvisiert, die Engelbart ein paar Jahre später vorführen sollte, doch schien es den Lesern an Vorstellungsvermögen zu fehlen. Abschreckender noch als seine praktischen Vorschläge waren die philosophischen Einlagen, welche der Maschine eine nachgeordnete Rolle zusprachen und bei denen es vor allem um die Co-Evolution von Mensch und Maschine ging.
Allerdings erregte der Text die Aufmerksamkeit zweier Männer, die an exponierter Stelle saßen: Bob Taylor, ein Psychologe in den Diensten der NASA, und Joseph R. Licklider, der am MIT über die Mensch-Maschine-Symbiose gearbeitet und dafür beträchtliche Mittel des Verteidigungsministeriums erhalten hatte. Und so bekam der Maverick Engelbart, zur Verblüffung seiner Vorgesetzten, im Jahr 1964 eine Million Dollar für den Kauf eines Computers und eine weitere halbe Million, um einen Mitarbeiterstab aufzubauen und sein Ziel voranzutreiben. Binnen Kurzem blühte Engelbarts Augmentation Research Center (ARC) auf. Dies hatte nicht unwesentlich mit jener Philosophie zu tun, die Engelbart »Bootstrapping« nannte – und die sich vom Akt des Stiefelschnürens ableitet, genauer, jenem Schwung, mit dem man sich selbst in die Lüfte erhebt, ähnlich dem Baron Münchhausen, dem es gelingt, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen – mitsamt Pferd.
Tatsächlich bestand die wichtigste Einsicht dieser Philosophie darin, dass sich Werkzeuge bauen lassen, die das Arbeiten am Computer massiv beschleunigen, darüber hinaus weitere Beschleunigungswerkzeuge ermöglichen können. Dabei schwebte Engelbart vor (seiner Erfahrung als Radartechniker folgend), den Bildschirm als sensible Fläche zu behandeln. Warum konnte man nicht, wie bei einer Tafel, auf irgendeine Stelle zeigen und dort eine Markierung hinterlassen? Also setzte er sich hin und entwarf ein Gerät, das, mit Rollen versehen, die Bewegung der Hand auf den Bildschirm übertrug. Womit die Maus geboren war.
Da nun ein solches Gerät existierte, lag es nahe, auch das entsprechende Textverarbeitungssystem zu bauen, und zwar so, dass man ein Wort über einen Klick markieren, löschen oder verschieben konnte. Als Engelbart einem staunenden Forscher präsentierte, wie leicht sich auf diese Weise ein Text bearbeiten ließ, war die Reaktion keineswegs positiv; im Gegenteil, sein Gegenüber beharrte darauf, dass man zunächst DELETE WORD und dann das zu löschende Wort eingeben müsse. Mochte der Außenwelt die Maus als ein allzu »kompliziert zu bedienendes Gerät« vorkommen, hatten die Institutsmitarbeiter nicht die geringsten Schwierigkeiten damit.
In geradezu atemberaubender Geschwindigkeit wurde eine Idee nach der anderen realisiert. Nach der Erstellung eines grafischen User-Interfaces kam die Logik der Sicht an die Reihe, also eines Fensters, das, wie die Spitze eines Eisbergs, nur einen Ausschnitt des Informationsraumes auf den Schirm zauberte; dann folgten die Programme, die den Flug durch den Raum der Daten erlaubten: das Suchen, Strukturieren, Verknüpfen, endlich das Speichern und Laden von Bewegungsabfolgen. Um der explodierenden Komplexität Herr zu werden, legte man Dateien an, die als kollektives Wissensrepositorium (Wiki) dienten und kommentiert und verändert werden konnten. Im Laufe der Jahre verwandelte sich das auf siebzehn Mitarbeiter angewachsene Institut, Engelbarts magischem »Bootstrapping« folgend, zur ersten computergestützten Gemeinschaft. Man saß an Terminals, die in einem offenen Großraumbüro standen – oder traf sich in den Einzelbüros, wo man, wie ein Indianerstamm auf dem Boden sitzend und rauchend, Brainstorming-Sitzungen abhielt. Nicht nur, dass Engelbart einen Psychologen engagierte, der die Kommunikation der Teilnehmer untereinander analysierte, darüber hinaus nutzte man, um auf neue Ideen zu kommen, tatsächlich die bewusstseinserweiternde Kraft von LSD.
Was nach kreativem Chaos aussah, war jedoch eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel – eine Explosion an Effizienz und Innovationskraft. Nicht zufällig wurde Engelbarts Institut zum Aushängeschild und das Stanford Research Institute (SRI) zum ersten Knotenpunkt des Arpanet – ebenso wie die Wissensbasis des Instituts in jenem Online System (NLS) verankert lag, in dem sich Engelbarts Träume von einem gruppenbasierten Arbeiten realisiert hatten. All die Entwicklungsstränge, die sich in den 50er-Jahren herauspräpariert hatten – der Mikroprozessor, die allgemeine Programmiersprache, die Idee der Simulation –, hatten in einer überschaubaren Gruppe von Forschern eine geradezu revolutionäre Energie entfaltet. Grundbedingung dafür war die großzügige Förderung, die das amerikanische Verteidigungsministerium bereitgestellt hatte, eine Förderung, die schon deswegen so bemerkenswert war, weil sie nicht mit konkreten Zielvorgaben verknüpft war, sondern – im Geiste Vannevar Bushs – die Freiheit der Forschung über alles stellte. Auf eine merkwürdige Weise markiert das Hippie-Unternehmen des Stanford Research Institutes also die Einlösung jenes Traums, den eine Generation zuvor Vannevar Bush geträumt hatte – nur dass sich statt eines radioaktiv verseuchten Atompilzes eine Wolke der Imagination in den Himmel erhob. Kaum eine Generation, nachdem Vannevar Bush die Vision eines Desktop-Computers entworfen hatte, war all dies Realität – nein, mehr noch, war die Vision von der Realität überholt worden.
Der Berg kreißte und gebar eine Maus (Horaz, Ars poetica). Was die Frage aufwirft: Was wird aus einer solchen Maus, wenn sie groß wird?
Wieder einmal ein hervorragender Artikel, der nicht nur den "Bootstrapping"-Charakter des Computers (rudimentäres Abbild des menschlichen Gehirns) zum Ausdruck bringt, sondern auch das stupende Allgemeinwissen des Autors zeigt.
Frank Raudszus