Deutschland im Blackout
Wenn Deutschland mit dem Ausbruch des Krieges in einer neuen Welt aufgewacht ist, so nur deswegen, weil man es sich zuvor in einem langen Dornröschenschlaf bequem gemacht hat. Und weil dieser die gesamte classe politique heimgesucht hat, geht jede einseitige, noch dazu parteipolitisch motivierte Schuldzuweisung an der Dramatik des Befundes vorbei. Dieser läuft auf eine Rätselfrage hinaus: Wie konnte ein phantastisches Weltbild die Oberhand gewinnen? Wie konnte der Glaube an Buzzwords die Realitäten ersetzen? Ganz offenkundig, weil man selbige nachhaltig hatte auslagern können. Von nahem betrachtet jedenfalls erweist sich die Weltbeglückungsaktion der Energiewende als Kamikazeakt: als Sprung aus dem Flugzeug, im festen Glauben daran, dass man sich beim Sturz in die Tiefe schon seinen Fallschirm wird zurechtnähen können – auch wenn die Vorlage noch niemals erprobt worden sein mag. Nun ist es keineswegs so, dass der Autor dieser Zeilen die Notwendigkeit einer umweltfreundlichen, intelligenten Energieversorgung bezweifelt, ganz im Gegenteil. Aber der Teufel steckt im Detail und:
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint (Kurt Tucholsky)
Auf kuriose Weise ist das Argument, mit dem der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sein Nordstream 2-Engagement zu rechtfertigen suchte, so treffend wie es verräterisch ist. Denn er machte geltend, dass er nur durchexerziert habe, was damals jeder gedacht habe. Mag dies in Anbetracht der deutschen Geschichte ein höchst fragwürdiges Argument sein, so ist der Sachverhalt doch präzise erfasst: Zeitgeist, Corpsgeist, Gruppendenken. Der fromme Konsumentenglaube, dass die Güter der Welt schon auf die Begüterten herabregnen werden, wie Manna vom Himmel. Wir sind ein reiches Land – wer hat, dem wird gegeben! Folglich kam niemand in der Regierung auch nur auf den Gedanken, das, was die Besetzung der Krim doch gerade vorgeführt hatte, auch auf sich selbst zu beziehen. Warum auch? Wenn der Markt die Lösung ist, muss man sich nicht mit den Widrigkeiten der politischen Ökonomie und den Schmutzeleien der Macht beschäftigen. Und trotzdem erzählt das Bild des Dornröschenschlafs nur die halbe Wahrheit. Denn wenn ein Persönlicheitsanteil in einen tiefen Schlaf verfallen sein sollte, so war es nicht der geschäftige Konsument, der, wenn er nicht aufs Einkaufstour war, seine Allerweltsweisheiten in die Welt der sozialen Medien hinauszwitschert, sondern jene skeptische Instanz, die man ehedem die Vernunft genannt hat.
Der Phantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner nur vor anderen. (Nietzsche)
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. In diesem Sinn ist Putins Krieg weniger die Ursache der gegenwärtigen Kalamitäten, als vielmehr ein Katalysator, der die im Schatten hausenden Ungeheuer ans Licht gebracht hat. Nun, da die Pipelines zerstört sind, der energetische Zufluss gekappt, erweisen sich die politischen Diskurse der vergangenen Dekaden als Wunschdenken, kann man im Zeitraffer zusehen, wie ein Generationenprojekt auf ein Häufchen Elend zusammenschmilzt. Hatte man sich schon mit der Zeitenwende vom Staatspazifismus verabschieden müssen, droht mit dem bevorstehenden Energiefiasko eine Welle der Deindustrialisierung. Trotzdem bleibt die Frage: Was genau hat sich in Luft aufgelöst? Und wie konnte dieser eifrig betriebene Wirklichkeitsverlust eine ganze Gesellschaft erfassen? Die Anfänge dieser Entwicklung reichen bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück – und sie stehen Pate bei der Gründung der grünen Partei. Mit dem Scheitern der Studentenbewegung (grundiert vom Ölpreisschock, der Stagflation und der Einsicht in die Grenzen des Wachstums) fand der heimatlos gewordene Systemzweifel in der Umwelt einen Ersatz für den Arbeiter. Die geschändete Natur war insofern ein ideales Objekt, als sie sich klaglos vereinnahmen ließ und, anders als der realexistierende Arbeiter, sich nicht zu einem empörten »Geh doch nach drüben!« verstieg. Indem man die Umwelt zum Spiegel des eigenen Entfremdungsgefühls machte, ließ sich der Marsch durch die Institutionen antreten (hin zur Beamtenseligkeit), während man andererseits dem Systemzweifel und der eigenen Welterlösungsmission treu bleiben konnte. Aus psychologischer Warte betrachtet war die Umwelt ein wahres Himmelsgeschenk. Denn mit ihr geriet eine verführerische Suprematie in den Blick: eine moralische Selbstermächtigung, bei der sich der Gegner in der Rolle eines Umweltsünders, man selbst aber auf der Seite des Guten sich wiederfand. Atomkraft, nein Danke! Und wie einfach das war: ein Aufkleber, schon war die Welt in Gut und die Böse geschieden. Dieses Schisma war umso verführerischer, als man damit die Stolpersteine der politischen Ökonomie hinter sich lassen konnte. Fortan waren die Mühen der Ebene passé, eine Politik des Himmels verheißen. In jedem Fall war mit dem Sprung in die Umwelt der Ausstieg aus dem System und der Geschichte vollzogen. Nun hat dieser Gang in die Unterkomplexität (Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!) durchaus seine Vorteile. So wie die Moral unter Einkaufspreis von moralische Dilemmata befreit, erlaubt die Vermählung mit der Natur, dass man, im Besitz ewiger Wahrheiten schwelgend, sich nicht mit konkreten Problemen herumschlagen muss. Weil alles eine Frage des Konsums ist, kauft man das Superfood im Bioshop – und ist auf mirakulöse Weise gereinigt. Dass dessen Ökobilanz, buchhalterisch betrachtet, gelegentlich so verheerend ausfallen mag wie die Umweltzerstörungen, die der Biokraftstoff auf Sumatra und Borneo hinterlassen hat, ist so gegenstandslos wie der Umstand, dass sich das Waldsterben der achtziger Jahre nicht hat einstellen wollen. Denn weil die konsumistische Internationale weniger auf die Realität als auf die moralische Selbstveredelung abonniert ist, entpuppt sich der Umweltaktivismus vor allem als narzisstische Selbstermächtigungsphantasie. Auf kuriose Weise könnte man das Gutmenschentum als Zwilling des Neoliberalismus auffassen – mit dem Unterschied nur, dass hier ein moralischer Gewinn eingefahren wird (indes die Verluste den deplorables aufgehalst werden). Auf unnachahmliche Weise hat der Umweltaktivist Franz Alt diese Logik verkörpert.
Der Stellvertreter der Sonne auf Erden
Dass er nicht müde wurde, darauf zu verweisen, dass Wind und Sonne keine Rechnungen schicken, war ein Appell an die aufgeklärten Verbraucher; politisch heikler hingegen wird es dort, wo er sich selbst, im Bewusstsein des Avantgardisten, zum Stellvertreter der Sonne auf Erden erklärt – ein Scherz, der mit großer Präzision auf die Ordination durch eine höhere Macht, ja, das Gottesgnadentum eines Sonnenkönigs anspielt.
Weil die narzisstische Selbstermächtigung jede Realpolitik aussticht, ist es kein Zufall, dass der zeitgemäße Aktivismus von einer gläubigen Apokalypsegewissheit angetrieben wird, ja, dass die gegenwärtigen Wohlfahrtskomitees sich durch stupende geschichtliche Blindheit auszeichnen. Dass man dabei auf Nachhaltigkeit oder die ewige Wahrheit des Anthropozäns schwört, macht die Sache nicht besser. Denn woher kommt Nachhaltigkeit? Was ist die Vorgeschichte, die diesen Begriff aus der Forstwirtschaft zum Katechismus, ja, zum hot shit aller Ökofreaks machte? Mag sein, dass die Wortführer der Bewegung sich Paul Ehrlichs Population Bomb oder die Grenzen des Wachstums zu Gemüte geführt hatten – aber letztlich wurden die dort vertretenen Einsichten auf die Komplexität des Aufklebers eingedampft. Und dies mit gutem Grund. Denn hätte die erste Grünenfraktion, die sich brüstete, nicht mit Computern zu arbeiten, sich auf die Vorgeschichte ihres Weltbildes eingelassen, so hätte sie ein blaues Wunder erlebt – hätte sie realisieren müssen, dass sie mitten in einer Computersimulation zu neuen Ufern aufgebrochen war. Darin liegt die ganze Ironie der Geschichte (die einer geschichtslosen Bewegung freilich entschlüpft ist). Denn was immer sich man an Werkzeugen angeeignet hatte, ist dem Digitalisierungsprojekt der Moderne entsprungen. Beginnen wir, praktischerweise, bei der Solarzelle. Selbstverständlich verdankt sie sich nicht der Weisheit des Naturburschen, der fernab der Gesellschaft sein Utopia ersonnen hat, sondern stellt ein Abfallprodukt der Halbleitertechnik dar.
Nur weil man die Zwitternatur des Siliziums entdeckt und sie als den aussichtsreichsten Speicher und Prozessor-Kandidaten in den Blick genommen hatte, konnten die Fünfzigerjahre mit einem solarbetriebenen Radio aufwarten. Damit freilich hat es nicht sein Bewenden. Ebenso wie die Photovoltaik verdankt sich auch der klimatische Blick dem modernen Digitalisierungsprojekt. Folgt man den geistigen Ursprüngen, denen sich die Modellrechnungen des Club of Rome und die Grenzen des Wachstums verdanken, landet man beim Computerpionier Jay Forrester. Hatte er die Vakuumröhre zu einem digitalen Speicher verwandelt, war er in den Fünfziger Jahre mit dem Aufbau eines landesweiten Luftüberwachungssystem beschäftigt, mit dem sich die USA gegen die atomare Bedrohung der Sowjetunion zu wappnen suchte. Nach Beendigung dieser Aufgabe wechselte Forrester an die Sloan School of Management und beglückte das MIT mit einer Modellierungssoftware, die zunächst in der Logistik von Bierbrauereien, dann in der Urbanistik Anwendung fand. Ihre große Stunde aber erlebte dieses Programm, als man auf den Gedanken verfiel, die Ressourcen der Erde zu berechnen. Kurzgesagt: der Blick des Klimatologen basierte auf der Computersimulation – und diese wiederum entsprang dem energiehungrigsten System, das die Gesellschaft bis dato realisiert hatte. Dass heutzutage jedes Smartphone eine größere Datenmenge bewältigt als dieser energiefressende Moloch, hat schlicht damit zu tun, dass die Halbleitertechnik ihren Wirkungsgrad seit den 50er Jahren um einen Milliardenfaktor gesteigert hat. Diesem Modell wahrer Nachhaltigkeit ist zu verdanken, dass man Satelliten in den Weltraum hinaufschießen und von dort alle erdenklichen Klimadaten zur Muttererde hinabschicken kann – eine Vernetzungslogik, die uns mit dem Internet beglückt hat.
Dieser geistige Zusammenhang jedoch (die Kette, die von der Quantenmechanik zum Transistor, von der Computersimulation zur Satellitentechnik, schließlich zu den ersten Klimamodellen führt) ist einer naturschwärmerisch verbrämten politischen Romantik geopfert worden. Dass die Maschine des Teufels ist und menschliche Natureingriffe möglichst gen Null reduziert werden sollen, mag das Herz des Apokalyptikers wärmen – es lässt vergessen, dass die Werkzeuge, die allein das Problem erfassen und zu seiner Lösung beitragen können, Produkte jener Geisteshaltung sind, die man als fossil und toxisch verunglimpft. Nun ist dies nicht nur ein Exempel dafür, dass der Feind des Guten das Gutgemeinte, der Feind der Moral die Moral unter Einkaufspreis ist, ärger noch ist, dass ein solcher Selbstbetrug auf eine Form der geistigen Selbstkannibalisierung hinausläuft (oder bildlich gesprochen: Das dem Schlaf entsprungene Ungeheuer fällt über den verbliebenen Menschenverstand her). Denn nimmt man das Projekt der Energiewende ernst, ist evident, dass die Flatterhaftigkeit der erneuerbaren Energien sich nur über die Konstruktion eines Smart Grid einhegen lässt. Selbiges lässt sich als ein automatisiertes Internet begreifen, bei dem die verteilten Netzknoten miteinander in Kommunikation treten – zum einen, um den Energiebedarf der Konsumenten festzuhalten, zum anderen, um aus dem Nutzerverhalten Rückschlüsse auf künftiges Energieverhalten zu ziehen. Weil dieses System ein verteiltes (wenn man so will: ein basisdemokratisches) Netz ist, ist das entscheidende Desiderat, dass dieses Netz jeden erdenklichen Standpunkt abzubilden vermag: den Blick des Endverbrauchers wie den des Hausbesitzers, der den Strom aus seiner Solaranlage ins Netz einspeisen will, aber eben auch den Panoptikumsblick des Systems selbst, mit dem sich gesamte Energieverbrauch darstellen und analysieren lässt. Nur über ein derartiges Wissensgewebe, das ein technisches wie politisches Generationenprojekt ist, lässt sich der Bauplan der künftigen Infrastruktur erlangen, mit dem sich die Gesellschaft der Zukunft versorgen lässt (energieagnostisch, wie der terminus technicus lautet). Aber weder das Netz noch die allfälligen Infrastrukturmaßnahmen sind in Angriff genommen worden – mit der Folge, dass Stadtwerke vielerorts gar nicht wissen, wer was wo und wann an Energie benötigt. Dass man sich dazu verstiegen hat, eine Energiewende in Angriff zu nehmen, aber die Bedingung der Möglichkeit (das Wissensnetz) ausgespart hat, ist ein schlagender Beleg dafür, wie sehr sich die Sonnenkinder einem gedanklichen Blindflug überantwortet haben. Letztlich lässt sich diese Verblendung nicht rational, sondern nur einem religiösen Blickwinkel erklären. Nur dieser erklärt, warum man – selbst vor dem Prospekt des dräuenden Blackouts – sich auf das Schisma zwischen den guten, erneuerbaren und den schlechten, fossilen Energien kapriziert hat. Und dies ist, wie jede Selbsterkenntnis, die vielleicht bitterste Einsicht. Nämlich dass die Ökologie das Problem ist, für dessen Lösung sie sich hält.
Nun ist das geistige Elend kein Parteienbesitz. Bringt man die derzeitigen Kalamitäten auf den Punkt, wäre zu sagen, dass die Energiekrise eine lang verborgene geistige Krise ans Licht bringt – das Versagen einer classe politique, die ihre Geistesträgheit zu einer Weltanschauung, ja, einer Form der moralischen Suprematie veredelt hat. War schon die Finanzkrise ein Lehrstück darüber, wie die Masters of the Universe ihren eigenen Zaubersprüchen erlagen, bringt die Energiekrise ans Licht, dass die moralische Suprematie keinen Deut besser ist als die Gier. Auf kuriose Weise verrät das Merit-Order-Prinzip, das den Übergang in die schöne, neue Welt der Erneuerbaren hätte bewerkstelligen sollen, in welchem Maße seine Urheber einer konsumistischen Weltsicht, ja einem Wunschdenken huldigen. Was macht man wohl, wenn man selbst nicht Hand anlegen will? Man organisiert eine Auktion (»denn der Markt wird es schon richten«). Was man vergisst, ist, dass der Markt vom Überfluss lebt – und in den Zeiten das Mangels verrückt spielt. Und so erweist sich das schöne Arrangement als ein Schildbürgerstreich. Man stelle sich eine Kunstauktion vor, bei der jedes Bild den Preis jenes Kunstwerkes erhält, das den höchsten Preis erzielt hat (sagen wir: den eines Picasso). Anstatt der Absurdität dieser Logik Rechnung zu tragen und sie schnellstmöglichst zu Grabe zu tragen, sinniert man darüber nach, wie man die Übergewinne zu besteuern vermag – oder versteigt sich dazu, den Mangel zur gesellschaftlichen Tugend zu machen (»Der Waschlappen ist eine brauchbare Erfindung«). Hier verschmilzt das neoliberale Marktvertrauen mit einer Staatsgläubigkeit, ja, einem autoritären Paternalismus, der an den Steuerungswahn der kommunistischen 10-Jahre-Pläne gemahnt. Anders als in der Finanzkrise jedoch ist es hier mit Symbolpolitik nicht mehr getan. Hatte man in der Finanzkrise dem Geldmangel mit frisch gedrucktem Geld beikommen können („Es ist doch nur Geld“), erfasst der Mangel nun das kapitalistische Betriebssystem selbst. Allerdings ist der Maschinenstillstand nicht auf den starken Arm des Proletariers zurückzuführen (»Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«), sondern auf die Geistesschwäche einer Gesellschaft, die, am Ende der Geschichte angekommen, die Vernunft in einen Dornröschenschlaf, ja, eine Form der Umnachtung hat fallen lassen. Und wacht man nicht auf, so wird man in einer Welt erwachen, von der man nicht einmal zu träumen sich wünscht. Blackout.